Der Knüller

von Gaither Stewart

 

November 2001

 

Seit die englische Zeitung von San Miguel zwei seiner Artikel gedruckt hatte, erzählte Jerry bei den Leuten in der Stadt überall herum, er sei ein Schriftsteller. Das gab ihm eine große Befriedigung, denn nichts wünschte sich Jerry sehnlicher, als dass er als Schriftsteller bekannt werde. Nichts desto weniger war er selbstkritisch und fühlte sich nicht gerade wohl, wenn er die Sportbar im Hinterzimmer des Tex-Mex Restaurants betrat, wo jeden Samstagnachmittag die Literaten versammelt waren, um American Football zu sehen; er war sich dessen bewusst, dass er in ihren Augen nicht als Schriftsteller galt.

    Er war schlaksig und hatte ein hageres Gesicht, und so kultivierte Jerry das Aussehen eines Mannes, der nach vielen Strapazen, Weltreisen und inspirierter Meditation weise geworden sei und nun den einzigen logischen Weg gewählt habe, - die Literatur. Nach seiner vorzeitigen Pensionierung als Lehrer an einer exklusiven Grundschule in Atlanta war das erste, was er tat, gewesen, dass er sich nicht mehr rasierte und sein Haar wachsen ließ. Schließlich blieb es bei einem dünnen Schnurrbart und einem Kinnbärtchen. Weil bis dahin jedoch das Haar oben auf seinem Kopf beinahe ganz ausgefallen war, entschloss er sich zu einem kleinen Pferdeschwanz, seinem "Chignon".

    Als sein erstes Jahr in Mexiko zu Ende ging und die Zeitung seine Besprechung über ein Buch mit dem Titel 'Wandel im Gebrauch des amerikanischen Englisch' und zwei Monate später ein Bericht über einen Gesellschaftsausflug zum Patzcuaro-See druckte, begann er zu glauben, dass er auf dem Wege sei, ein Schriftsteller zu werden. Immerhin war sein Name gedruckt worden. Um den Durchbruch zu erreichen, fühlte er, dass er jetzt vom Clan der Schrifsteller in der berühmten Kurstadt angenommen werden müsste.

    “Das ist also alles, was ihr Kerle zu tun habt,” rief er vom Ende der Bar in seinem leichten Dialekt hinüber. "Kerle" klang in seiner etwas gedehnten Sprache wie "Keale", er sprach es so aus, als wollte er einen Rocksänger imitieren. Auch wenn sein Auftritt etwas geräuschvoll und kumpelhaft war, hatte er so seine Zweifel daran, dass es sich für ernsthafte Schriftsteller schicke, hier auf hohen Stühlen zu sitzen und sich die Kehle aus dem Leib zu schreien, während die Giganten von Notre Dame und von der UCLA auf dem Rasen miteinander rangen und die Cheerleaders ihre kleinen, knackigen Ärsche zeigten. Wie dem auch sei, wenn er ein Schriftsteller war, dann musste er einer von ihnen sein.

    “Du solltest zu Hause sein und die Bibel lesen, oder Shakespeare oder irgendwas,” witzelte er und klopfte Jim Riley auf die Schulter. Den Autor von Kinderbüchern kannte er am besten. Er war schon zum Abendessen in seinem Haus gewesen und fühlte sich in seiner Gegenwart wohl. Auch zählte er auf ihn, dass er seine Mitgliedschaft in der Elitegruppe stützen würde.

    “Na, da ist ja unser bezopfter Journalist aus Georgia.” Riley riss seine Augen vom Bildschirm los und blickte zu Jerry hinauf mit einem glasigen, abwesenden Ausdruck in den Augen. “Wieder ein paar saftige Sexgeschichten gefunden?” fragte er, während er sich wieder dem Bildschirm zuwandte.

    “Ach, ich arbeite gerade an einem großen Auftrag ... top secret!” Jerry hatte eine dicke Mappe mit Broschüren, Zeitungsausschnitten und Notizen unter den Arm geklemmt. Er trug sie immer bei sich auf seinen Streifzügen durch die Stadt, - vom Postamt zu seinem Café am Zocalo, von der Zeitungsredaktion zur Bibliothek und zu den schattigen Bänken im Jardin.

    War da nicht ein wenig Bosheit in Jims Blick gewesen? Jerry war über das Fehlen von Wärme bei der Begüßung etwas verstimmt und besorgt. Während er durch die Bar schritt, grüßte er Charles O’Grady und Billy Jones mit Namen und nickte den anderen zu, die er nicht kannte. Die vom Spiel gefesselten Literaten antworteten mit zerstreuten Grunzlauten. Es war etwas peinlich. Er stopfte seine Papiere unter einen Stuhl und kletterte hinauf zum Tresen gleich neben Robert Druard. Er bestellte sich ein kaltes Corona und tat es den anderen gleich, die blicklosen Augen an die große Mattscheibe geklebt.

    Er hatte jedenfalls Fußball nie wirklich geschätzt. Er verstand kaum etwas davon. So wetzte er etwas unbequem herum und stieß dabei fast Druard an die Schulter. Der nickte ihm zu und sagte: "Wie geht's?" Jeder sagte, Robert Druard sei ein Schreiber von Kurzgeschichten mit einiger Reputation. O’Grady und Jones lehnten sich über die Bar und schrien Bemerkungen und Reaktionen zu Druard hinüber und die Fernsehreporter schrien etwas über die Tiger und die Wölfe und über den Verlauf von Angriffen und Verteidigungsstrategien. Jerry hatte keinen blassen Schimmer, wovon sie redeten. Er wollte Druard anreden und eine Bemerkung machen, aber es fiel ihm nichts ein, das Bezug auf das Spiel hatte.

    Jerry war immer für seine Witzeleien bekannt gewesen. Von Natur aus streitsüchtig und aufdringlich, hörte er nicht auf, wenn er mal zu reden angefangen hatte, - besonders in der ersten Person. Wenn seine Frau beim Scheidungsverfahren die Unverträglichkeit seines Charakters als Grund angegeben hatte, so hatte sie ihm doch gesagt, der Hauptgrund, warum sie sich scheiden lassen wollte, sei, dass sie ihm einfach nicht mehr zuhören könne. Seine beiden Kinder stimmten dem zu. Nach der Scheidung kamen sie nie mehr vorbei. Als er zu verstehen begann, dass er ein Opfer seiner eigenen Persönlichkeit war, - seiner schnurrigen Gesprächigkeit, wie er sagte, entschied er, dass Atlanta für ihn zu klein sei, und kam nach Mexiko.

    Er fragte sich, kann ein Mann seinen Charakter noch ändern? So bin ich nun einmal, entschuldigte er sich vor sich selbst. Aber deswegen kam er sich jetzt doch wie ein Narr vor. Wie ein Zeigestock, der nie etwas zeigen konnte. Bloß hier auf dem Stuhl neben dem Kurzgeschichtenschreiber sitzen und nichts sagen konnte. Es war ein Fehler gewesen, herzukommen.

    “Riley, du hast einfach keinen Sinn für Fußball. Er hat nicht die Sicht auf das Feld wie ein Fußballer,” schrie Druard durch die Bar und stellte sein Glas lautstark auf den Eichentisch. “Heh, José, bring mir auch noch eine Tequila und füll bei den anderen nach. Die Runde geht auf mich, Jungs.”

    Warum hatte er das nicht gemacht? dachte Jerry. Das hätte das Eis gebrochen. Das erinnerte ihn an die alten Streitigkeiten mit seiner Frau, - er riss Witze und gab Bonmots von sich, aber dachte immer erst am nächsten Tag über die wirkungsvollen Dinge nach, die er sagen hätte sollen. Er war reich an Wortspielen, aber arm an Courage im Kampf.

    “Danke, Bob,” sagte er lauter als nötig, während ihm José noch ein Bier brachte. “Ich schmeisse die nächste Runde.”

    “OK!” sagte Druard und sah ihn an, als ob er sich frage, wer das wohl sei.

    Samstag für Samstag konnten sie sich mit diesem unverständlichen Fußballgeschwätz abgeben. Er wusste, dass es großteils Unsinn war, nur eine Ausrede für eine besondere Art von Kameraderie, aber er hatte Schwierigkeiten, in den Geist davon einzudringen. Was er wollte, war, mit Druard und Riley in einer Nische zu sitzen und über neue Literatur, Inspiration und Kreativität zu diskutieren. Aber hier schweifte die Konversation nie von Abspiel und vollzogenen Pässen ab.

    Während des größten Teils seiner Berufslaufbahn war er Englischlehrer gewesen und mit 52 hatte sich Jerry für eine Frühpension entschieden, um seinem einschichtigen Leben in Atlanta zu entkommen. Er wollte seine Hand bei der Schreiberei versuchen und sich einen alten Traum erfüllen und im Ausland leben. Aber manchmal bereute er seinen hastigen Umzug. Vor allem aber bedauerte er, dass er seine Karriere als Schriftsteller nicht schon viel früher begonnen hatte. So wie Druard, der, wie ihm Riley erzählt hatte, seine erste Geschichte schon mit 19 in einem größeren New Yorker Magazin veröffentlicht hatte.

    Seit Jerry vor einem Jahr nach Mexiko gekommen war, so erzählte er dauernd jedem, schienen sich die Gründe zur Reue zu vervielfachen. Aber was konnte er tun? War es zu spät, sein Leben zu ändern? Immerhin war er noch nicht so alt. Und doch, oft kam ihm das Gefühl, dass er die Fehler der Vergangenheit jetzt nicht mehr korrigieren konnte, - seine Scheidung, die Entfremdung von seinen Kindern, seine finanzielle Misere, seine Orientierungslosigkeit, all das machte seine erbärmliche, unveränderliche Wirklichkeit aus. Er war einem irgendwie unverbindlichen Weg gefolgt, der ihn, ob er es wollte oder nicht, durchs Leben führte. Manchmal führte er ihn in die richtige Richtung, aber manchmal eben war es auch ein kompletter Irrweg, so wie ein leichtfertiges Mädchen über Nacht ihren Liebhaber von gestern vergisst und sich dem von heute an den Hals wirft. Er stand vor vollendeten Tatsachen. Er fühlte eine für ihn neue Demut, denn zum ersten Mal erfuhr er die Bedeutung von Reue. Jetzt bereute er seinen früheren Mangel an Reue.

    Pause im Spiel auf dem Bildschirm für eine Bierwerbung, und er hatte gerade seine Hand hoch gehoben, um eine Runde zu bestellen, da stand Riley auf und schrie zu José hinüber "nachfüllen!". Jerry ließ seine Hand sinken und sah sich in der halb abgedunkelten Bar um. Ein halbes Dutzend mexikanischer Touristen saßen in einer Ecknische, sie redeten laut, lachten und schenkten dem Fernseher keine Beachtung. Zwei schon etwas ältere Gringo Paare aßen Hamburger und blickten mit etwas Unbehagen auf die lärmenden Sportfans hinüber. Der Sportreporter kam wieder auf den Schirm und redete über die vergangenen Rekorde der Tiger, während sich die Mannschaften für einen weiteren Anstoß aufstellten.

    Er nahm einen Schluck von seinem Bier. Dann stellte er sein Glas härter ab als sonst und lehnte sich vor, um Riley etwas zuzurufen, aber der Kinderbuchautor redete gerade mit O'Grady. Jerry wetzte auf seinem Barhocker herum. Er beugte sich nieder und ordnete seine Schriftstücke und suchte dabei in den Winkeln seines Gedächtnisses nach etwas Fußballwissen für einen Kommentar.

    Aber er konnte mit den Erwartungen eben nicht mithalten! Was erwarteten die Leute überhaupt von ihm? Er betrachtete die anderen im Spiegel hinter der Bar und gestand sich ein, dass seine gesellschaftlichen Beziehungen immer oberflächlich gewesen waren. Er seufzte. Sein ewiges Schicksal, Einsamkeit. Er konnte nicht zu Hause leben und San Miguel blieb für ihn Ausland. Aus dem Kreis der Schrifsteller war er ausgeschlossen, weil er nichts von Fußball verstand. Seine Einsamkeit war die des Schöpfers, missverstanden, ein Paria, ein Eremit in der Welt der Ideen.

    Er starrte auf den Bildschirm und sah kaum, dass ein Stürmer einen Pass elegant zu einem weiteren Tor verwandelte. Die Fans der Wölfe rauften sich die Haare. “Die Tiger geben Gas,” schrie der hysterische Sportreporter. Rekorde wurden überboten. Die Sportgeschichte wurde neu geschrieben. Die Schriftsteller schrien in der ganzen Bar herum. Druard hatte sich auf die Sprossen seines Hockers gestützt und lehnte sich nach vorne über die Bar.

    Jerry schlenkerte das Bier in seinem Glas herum. Er konnte nichts reden. Wie konnte er mit Anstand weggehen, ohne dass man es bemerkte? Er drehte sich um und sah sich in der Bar um. Hinter ihm hatte sich ein paar Leute versammelt. Die Gringos in der Nische waren beim Zahlen. Ein paar Neuankömmlinge warteten schon. Er glitt von seinem Hocker und ging auf die Toilette.

    Als er zurück kam, raste ein Spieler der Tiger von einer Seite des Feldes auf die andere und Druard schrie: “da ist er, du Idiot, er steht ganz frei, schieß doch endlich den verdammten Ball.” Jerry bückte sich und sammelte seine Papiere gerade unter dem gewichtigen Druard ein, der jetzt wieder stand und zu dem großen Bildschirm hinschrie: “da ist er, schieß, Mensch, schieß den Ball, du Hurensohn.”

    Draußen ließ Jerry einen Seufzer der Erleichterung von sich. Es war ihm peinlich gewesen. Nur da zu sitzen und nichts zu reden, das war beschämend. Warum hatte er nicht wenigstens eine Runde kaufen können? Er ging die Canal hinauf, einen nachdenklichen Ausdruck auf seinem Gesicht. Er schaute zum Himmel hinauf. Heuer waren die Wintertage wirklich schön. Der hochgewölbte, wolkenlose Himmel warf bläuliche Schatten zwischen die Bäume des Jardin und brachte Tausende glitzernder Punkte in den Gärten hervor. Im Gegensatz zur Tex-Mex Bar hatte sich über San Miguel eine seltsame Stille ausgebreitet.

    Samstag Nachmittag! Er konnte seine leere Wohnung nicht ertragen. Vielleicht könnte er ja einen Sprung bei Miranda vorbei machen, auch wenn sich ihre Beziehung nach dem Besuch bei ihrer Familie in Mexico City etwas abgekühlt hatte. Aber ja, er musste etwas tun! Also ging er die Canal wieder zurück, den Hügel hinunter die Zacateros entlang, bog in die Pila Seca ein und und ging an dem billigen Hotel vorbei, wo er einmal gewohnt hatte, dann an der Praxis des Arztes vorbei, der seine häufigen Magenbeschwerden behandelt hatte. Er aß oft an den Straßenküchen, wo die Mexikaner auch aßen, in der Meinung, dass er nach und nach eine Immunität gegen die hiesigen Bakterien entwickeln werde, die es nur auf Ausländer abgesehen zu haben schienen. Dann ging er weiter zu dem neuen Wohngebiet, wo Miranda ein kleines Haus gemietet hatte. Als er schon den Finger auf dem Klingelknopf hatte, dachte er wieder, er hätte nicht hierherkommen sollen. Er läutete.

    Wie sie im Flur dastand, ihre große Bulldogge neben sich, wirkte sie einschüchternd. In ihren Stöckelschuhen und mit ihrem blonden Haar auf ihrem Kopf aufgetürmt überragte sie seine 1,80 m. Er mochte das Gefühl, ihr physisch unterlegen zu sein. Miranda Ortega, Tochter eines mexikanischen Generals, hatte anscheinend mehr von den Eigenschaften ihres Vaters geerbt als ihre Geschwister. Sie war entschieden und autoritär und gewohnt, zu befehlen.  Obwohl es für ihre Beziehung keine solide Basis gab, zog ihn selbst ihre arrogante Art, ihn zu behandeln, auf unerklärliche Weise an.

    “Na, wir haben uns ja schon einige Zeit nicht mehr gesehen,” sagte sie in ihrem sauberen Englisch. “Seit wir von Mexico City zurückgekommen sind!” Sie meinte damit sich selbst, Luisa, ihre zwölfjährige Tochter aus einer vorhergehenden Ehe, den Hund Antonio und Jerry. Sie blickte ihn kühl mit messenden Blicken an, während sie den Hund zurückhielt, der Jerry mochte und an ihm wie üblich hochspringen wollte.

    “Äh, ja,” begann Jerry. Er hatte immer mit ihr Spanisch reden wollen, aber weil ihr Englisch so viel besser war als sein Spanisch, hatten sie sich auf Englisch geeinigt. “Ich habe ziemlich viel bei der Zeitung zu tun gehabt und mit Schreiben und, äh ... weißt du, Miranda, ich glaube nicht, dass mich deine Familie gemocht hat.” Er war mit dem unausgesprochenen Eingeständnis herausgeplatzt, das er unbedingt los werden wollen hatte, nämlich dass der Besuch bei ihrer Familie im protzigen San Angel Viertel der Hauptstadt eine Katastrophe gewesen war.

    Sie hatten schon ein paar Monate miteinander geschlafen, als ihn Miranda bat, mit ihr und Luisa zur Geburtstagsfeier einer ihrer Schwestern zu fahren. Der lang erwartete sechsunddreißigstündige Besuch in der Villa von General Ortega bedeutete für Jerry nur Stunden voll Anspannung und Verlegenheit. In den darauf folgenden Tagen und Wochen dämmerte es ihm, dass er einfach alles falsch gemacht hatte: dass er die Familie jeden Augenblick fotografiert hatte, dass er so oft jemanden gebeten hatte, sich für ein Foto aufzustellen, dass er so hartnäckig darauf bestanden hatte, sein Anfängerspanisch mit seinem schrecklichen Akzent bei Tisch zu sprechen bei einer Familie, von der alle so gut Englisch sprachen.

    General Ortega, ein strammer Mann in der Welt des Militärs, liebte seine blonde Tochter abgöttisch. Und er machte kein Geheimnis daraus, dass er ihre Beziehung mit diesem Gringo als eine Mesalliance betrachtete. Ihr Bruder Alvaro, ein arrivierter Schriftsteller, war die meiste Zeit am Tag alleine in einer Ecke gesessen und hatte nur gegrunzt, wenn Jerry versucht hatte, ein Gespräch mit ihm anzufangen; Er war der Hauptgrund gewesen, warum Jerry in erster Linie nach Mexico City fahren wollte, er wollte mit diesem brillianten mexikanischen Literaten reden. Miranda erzählte ihm, dass Alvaro meditiere; Er konnte einen ganzen Tag an einem einzigen Absatz arbeiten. Jerry wurde immer noch rot, wenn er an die gedankenlose Antwort dachte, die er darauf gab: “Vielleicht kennt er nicht die Bedeutung der Inspiration.”

    “Das bildest du dir ein,” sagte sie jetzt im Flur. “Aber du weißt ja, wie mexikanische Familien sind.” Er wartete, aber sie führte ihren Gedanken nicht weiter aus. “Willst du hereinkommen?”

    “Nur für ein paar Minuten.” Jerry warf seine Sachen auf einen Sessel und ließ sich mitten auf der Couch nieder, seine Beine weit auseinander, er tat es mit Bedacht auf eine familiäre Weise. Antonio sprang sofort zwischen seinen Beinen hoch, leckte ihm die Hände und sabberte auf seine Hose. Mit zurückgelegtem Kopf und halb geschlossenen Augen, erhaschte Jerry, während er mit den Händen die Begeisterungsstürme des Hundes abzuwehren versuchte, einen Schimmer von Irritation auf Mirandas Gesicht. Er verstand auch gleich, warum: Sie war der Meinung, er gehöre nicht hierher.

    “Na, zumindest Antonio mag, wenn ich da bin. Ich glaube, er braucht einen Mann in seiner Umgebung.” Kaum waren die Worte aus seinem Mund heraus, wusste er, dass auch sie falsch waren. Immer noch von seinem feigen Auftreten in der Schriftstellerbar gedemütigt, brauchte Jerry Rückenstärkung. Seltsam, wie kühl sie geworden war. Als ob sie nie das Schlafzimmer da hinten geteilt hätten. Was war das doch für ein beschämender Tag! Zuerst die Schriftsteller, und jetzt auch noch sie!

    Jerry war noch nicht lange genug in der Welt Lateinamerikas, um sich darüber klar zu sein, dass das leiseste Zeichen von Machogetue für eine emanzipierte mexikanische Frau eine Kriegserklärung bedeutete. Darüber hinaus hatte er Mirandas Stehvermögen noch nicht erfasst. Sie war stahlhart, unwiderstehlich, vielleicht gierig, aber stark und entschieden. Sie schien in den vergangenen Augenblicken von Stress und Krise eine ungeheure Kraft gefunden zu haben, die er nie verstehen konnte. Sie hatte ihm mehr als einmal zu erklären versucht, dass das Machogehabe der Grund gewesen sei, dass sie sich von ihrem Mann scheiden lassen hatte und in die Provinz gezogen war. Sie lehnte jede Form von Abhängigkeit von einem Mann ab, ihre Beziehung zu ihrem Vater ausgenommen, den sie verehrte und von dem sie sogar finanzielle Hilfe annahm.

    “Und wie geht deine Schreiberei voran?” Wie sie ihm da auf einem einfachen Sessel gegenüber saß, ihre dünnen Lippen geschürzt, das Kinn noch oben gereckt, sah sie nicht aus, als ob ihr wirklich etwas daran liege.

    “Oh, ich bringe jeden Tag etwas zu Papier.” Er schob Antonios Schnauze von seinem Mund weg, weil er Angst hatte, der Speichel des Hundes könnte Hepatitis verursachen. “Aber es ist schwer. Ich dachte, ich hätte so viel zu sagen. Aber am Morgen scheinen sich diese Gedanken immer in nichts aufzulösen. Inspiration kommt einem so schwer.”

    Wie viele Tage saß er in seiner Wohnung und wartete auf die Inspiration. Oder er schrieb zwei oder drei Zeilen nieder und zerriss dann gleich darauf das Blatt, weil er dachte, wenn es so schwer komme, dann müsse es wohl Scheiße sein. Er machte den Mund auf, um ihr zu sagen, dass er dem Schriftstellerzirkel beigetreten sei und im gegenseitigen Austausch von Ideen mit anderen Literaten Inspiration finde, aber er erinnerte sich daran, dass sie ein paar davon kannte, die ihr wohl eine ganz andere Geschichte erzählen hätten können.

    “Und doch, ich bin deswegen hier. In San Miguel, meine ich. Ich meine, ich brauche Inspiration, damit ich mein Unterbewusstes ausdrücken kann.” Er seufzte und nahm eine tragische Haltung ein. In Worten klang das alles so banal, aber er sehnte sich, ihr zu sagen, irgend jemandem zu sagen, wie das alles wirklich für ihn war. Er war auch nach San Miguel gekommen, weil er Unabhängigkeit und die Gedankenfreiheit suchte, die er damals dort nie besessen hatte. Das war ihm wichtig. Er sagte sich jeden Tag, er müsse sich von seinem Gewissen los machen, denn er glaubte, er hätte zu viel davon. An manchen Tagen lag er bis um 10 Uhr Vormittag im Bett und redete sich ein, es mache nichts aus. Denn, wer schaut schon bei mir vorbei? Und doch war das um so mehr erschreckend. Es verstärkte seine Einsamkeit, niemand sah bei ihm vorbei. Keiner brauchte ihn, weil keiner von seinen Fähigkeiten wusste.

    “Du bist heute so still, Jerry. Du schaust einsam aus. Vielleicht hast du nicht genug zu tun!”

    Es war wahr. Seine Einsamkeit war schlimmer geworden, seit er seine Nächte nicht mehr hier verbrachte. Es hob seine Isolierung hervor und verstärkte die Leere in seinem Kopf. Wenn dann Morgen kamen, an denen er nicht ein Wort für wert befand, es zu Papier zu bringen, und er fühlte, wie ihn seine Einsamkeit erstickte, fragte er sich: Wo sollte er hingehen? Wohin konnte er zurück gehen? Nur ein einsamer Mensch kann das Zuhause schätzen, den Fleck auf der Erde, der ihm gehört. Aber er, was konnte er schon in seinem früheren Zuhause anfangen? Er hatte dort in allem versagt. Dort brauchte ihn keiner mehr. In besonders bitteren Momenten dachte er: Wer brauchte schon sein Herz? Er hatte nichts, was er mit zurück bringen, zeigen und sagen hätte können, “das hier habe ich gemacht, das ist, wer ich bin.” Nein, er hatte keine Chance dazu. Was wäre, wenn er einfach verschwände und nichts hinterließe? Was würde es bedeuten? Nichts würde es bedeuten. Ohne einen außerordentlichen Erfolg gab es keine Rückkehr.

    Das machte Schriftsteller aus. Sie hinterlassen etwas. Es schien, dass ihm nur das Schreiben das versprechen könnte. Es würde der krönende Erfolg seines Lebens sein. Aber dazu brauchte er ein ein bedeutendes Werk, das ihn groß herausbrachte. Er brauchte einen Knüller! Den Knüller seines Lebens!

    “Ich bin alleine, aber ich muss wohin gehören,” sagte er, und bereute sofort, dass er das zugegeben hatte, wenn auch nur sich selbst. Die Worte waren kühn, aber erniedrigend. Und doch erkannte er vor sich selbst den Kern der Wahrheit. “Ich habe, scheints, nicht den Mut, als Einzelgänger in einer Welt zu leben, wo eine einzelne Person nichts je zählt. Es muss eine gewisse Solidarität im Leben geben.”

    Miranda blickte ihn an, sagte aber nichts.

    Das sind bittere Tage, sinnierte er. Entscheidende Tage. Jerry wusste, dass er nicht genug Einbildungskraft hatte, um alleine gefährlich weit zu wandern. Und er tröstete sich mit einem Gedanken, der immer wieder kam: er würde hier so lange bleiben als möglich, und wenn nichts Bemerkenswertes geschehen würde, dann würde er sich eben nach Atlanta zurück stehlen und die Fetzen aufsammeln, die er noch finden konnte.

    Während dessen quälte ihn der Knüller. Der Knüller könnte ihn rehabilitieren. Aber was für ein Knüller, wenn er nichts zu sagen hatte und den Ort, wo er wohnte, kaum kannte? Er verstand ja kaum die Frau, die vor ihm saß.

    “Inspiration!” Er hörte den Spott in ihrer Stimme. “Bist du denn ein Dichter? Dichter brauchen Inspiration. “Bist du denn nicht ein Journalist?

    “Ich bin ein Schriftsteller, nicht ein Journalist. Das ist nicht das gleiche.”

    “Die Zeitung hat zwei von deinen Artikeln veröffentlicht. Also sieht es so aus, dass du ein Journalist bist, Jerry. Zumindest bis du irgendetwas anderes schreibst. Mexiko ist so ein großes Land, Jerry. Schreib doch noch etwas für diese kleine Zeitung.”

    Oh! Sie wusste, wie man jemandem die Daumenschrauben ansetzt. Dieses Teufelsweib! Die kleine Zeitung! Und wie sie Jerry aussprach, so kehlig. Das war noch ein Grund, warum er seinen Namen hassen gelernt hatte, nämlich wie sie ihn aussprach, fast spöttisch. Als ob er eine Witzfigur wäre. In Wirklichkeit war sein Name so gewöhnlich. Grotesk für einen Schriftsteller, ‘Jerry’ zu heißen. Er wünschte, er hätte einen exotischen Namen, einen Doppelnamen, oder etwas, das einen romanischen Anstrich hatte, wie Roman oder Rafael. Aber Jerry? Lächerlich.

    Antonio war eingenickt, sein Kopf lag auf Jerry’s Schoß. Während er den Hund bedächtig hinter dem Ohr kraulte, kam ihm plötzlich die Idee über den Guerillakrieg in den Sinn, von dem er am Morgen im Kaffeehaus gelesen hatte. Das war nun eine wirkliche Geschichte. Mit ihrer geheimen Natur! Ihrer Gewalttätigkeit. Den Grausamkeiten. Eine aufkeimende Revolution. Direkt unter den Augen von jedermann, und es wusste keiner viel davon. Das war eine Story, die er zuerst schreiben konnte. Er würde ein neuer Jack Reed werden. Berichte von Chiapas im Süden und vom Staat Guerrero nicht weit von Acapulco. Er könnte den Besuch bei den Guerillas mit einem kurzen Urlaub an der Küste verbinden, wo er seine erste Geschichte schreiben könnte, in irgendeinem romantischen Hotelzimmer vergraben. Einem mysteriösen Ort in einer Nebenstraße. Seine Lampe würde bis spät in die Nacht brennen. Ein billiges, dunkles Zimmer mit einem Ventilator an der Decke, dünnen, schmutzigen Vorhängen, die in der Brise tanzten, und einem tropfenden Wasserhahn am Waschbecken. Er würde sich schwarzen Kaffee und ein paar Flaschen Mineralwasser bestellen. Am frühen Morgen würde er ungepflegt daherkommen, das Zimmer in einem Tohuwabohu, aber sein Knüller würde sicher sein in seinem Laptop auf dem blanken Tisch hinter den Vorhängen, die jetzt still hingen.

    “Wenn ich je einen Durchbruch haben soll, muss ich etwas Sensationelles machen. Weißt du, Miranda, etwas, das sonst niemand hinbringt. Ich meine, ein Knüller.”

    “Wenn du kein Journalist bist, wozu brauchst du dann diesen Knüller?”

    “Wie ich sagte, für einen Durchbruch. Um mir einen Namen zu machen. Ich muss bekannt werden.” Er sagte nicht dazu, dass ihm so ein Knüller auch die Türen in den magischen Kreis des Schriftstellerclubs öffnen würde. Sein Journalismus war bedeutungslos. Jede Großmutter hätte diese Geschichten schreiben können. Sie verliehen ihm nicht den nötigen Glanz.

    “Vielleicht ein Besuch bei den Rebellenarmeen in den Bergen.”

    “Na ja, viele ausländische Journalisten schreiben über die Revolutionsarmee der Zapatisten, aber die meisten ignorieren die revolutionäre Untergrundbewegung in Guerrero. Und dieses Gebiet ist unter dem Kommando von General Ortega,” sagte sie, indem sie ihren Vater mit diesem Titel meinte, wie sie das öfter tat. “Jeder in den Dörfern kennt sie, aber du kannst nicht ohne Erlaubnis des Militärs zu ihnen kommen. Er könnte das arrangieren.”

    “Aber er mag mich nicht!”

    No importa, macht nichts. Er wird es tun, wenn ich ihn darum bitte.”

    Es war seltsam. Er wusste gar nichts über mexikanische Politik. Hatte sich nie dafür interessiert. Er las keine mexikanischen Zeitungen. Vor dem heutigen Tag hatte er nur hie und da etwas über den stillen Krieg mit den Rebellengruppen im Hinterland gelesen. Die amerikanische Presse schrieb nur über die Zapatisten, korrupte Politiker, den Drogenhandel und die mysteriösen Todesfälle von allzu neugierigen mexikanischen Journalisten, und über die desaparecidos. Man klagte das Militär an Grausamkeiten an allen und jedem zu verüben.

    Und wie sollte er überhaupt mit den Rebellen reden, selbst wenn er zu ihnen gelangte? Sein Spanisch war schrecklich. Wenn nur Miranda mit ihm Spanisch geredet hätte, wie er es gewollt hatte! Und dann würde diese Operation auch nicht gerade billig werden. Und was für eine Schande, was für eine Verschwendung, so einen Knüller dann an ein kleines englischsprachiges Blatt abzugeben. Und doch, das war seine große Chance. Der Knüller! Er brauchte etwas vollkommen Neues, einen ganz neuen Ort, von dem aus er sein Leben neu beginnen konnte. Einen Absprungspunkt. Ein Sprungbrett. Er brauchte den Knüller, um überleben zu können.

    Aber unter dem Schutz eines skrupellosen Militärs in das Hinterland von Guerrero zu gehen, so stellte er sich einen Astronomen auf der Reise zu einem fernen Planeten vor, der nur in der Theorie existiert. Er zerbroch sich den Kopf über die Probleme. Was tat er überhaupt? Was würde dabei herauskommen? Und würde ihn die Bekanntheit überhaupt zu einem Schriftsteller machen?

    “Aber ich habe keinen Journalistenausweis vom Außenministerium. Wer würde mich dann schützen?”

    “Du wirst keinen Ausweis brauchen, wenn mein Vater das arrangiert. Die Armee kennt die Rebellen und die Rebellen kennen die Soldaten. General Ortega kann ein Treffen arrangieren.”

    Es war zu leicht. Jerry hatte sein Leben als Schullehrer verbracht. Er war immer ein gehorsamer Amerikaner gewesen. Er hatte immer den Sicherheitsgurt benutzt, wenn er nur rund um die Ecke um einen Laib Brot fuhr, er war an den Bushaltestellen in der Schlange gestanden, er war sitzen geblieben, bis das Flugzeug endgültig stand, er glaubte an die Verfassung. Und wenn er heute auch fast gar nichts über Mexiko wusste, so war doch nicht vollkommen naiv. Er, der den Glauben des guten Amerikaners in Ordnung und Gerechtigkeit hatte, fing jetzt an, über seltsame Konzepte nachzudenken: Schicksal und Bestimmung als leitende Faktoren im Leben eines Menschen. In Mexiko hatte er sich manchmal gefragt, ob nicht auch im Schicksal Wahrheit läge. In Mexiko vielleicht mehr als in der Gerechtigkeit. Wohin würde ihn das Schicksal verschlagen? Würde er an irgendeinem abgelegenen Ort sterben müssen, unbekannt und unbemerkt? Die Möglichkeitkeit eines neuen Lebens in seiner Einsamkeit, und jetzt mit einem wachsenden Gefühl von mexikanischer Gesetzlosigkeit, schien ihm einen Augenblick lang wie eine Illusion. Eine melancholische Illusion. Etwas Fernes und Unerreichbares.

 

    Der Blick von seiner Dachterrasse auf den flammenden Himmel, der sich zum Horizont der Sierra hinzog, unterstrich dieses Gefühl des Verlassenseins. Es ist Zeit, dachte er, mich ernsthaft selbst zu prüfen, denn ICH BIN ALLEIN. Die Leute glaubten, er habe in seinem Leben hauptsächlich mit sich selbst zu tun gehabt, aber die Wahrheit war, dass er sich nie wirklich selbst gesehen hatte. Und doch fürchtete er, es könnte etwas spät sein, in sich selbst hinein zu blicken, was, er wusste es, der erste Schritt zur Kreativität sein würde. Aber war es überhaupt der Mühe wert? Er hatte schon genug illusorische Befriedigungen und dann die unvermeidlichen Enttäuschungen gehabt. Wohin sollte er sich jetzt wenden?

    Deshalb, und aus Widerspruch, wollte er seine Hoffnung auf ein neues Leben in eine erworbene Bekanntheit setzen. Denn in Wirklichkeit war er ein Niemand. Sicher war er kein Held. Aber er konnte versuchen, einer zu sein. Oder etwa nicht? War er anderen, zu Hause in Atlanta, nicht immer furchtlos erschienen? Dass er nach Mexiko gekommen war, war ein Beweis dafür. Indem er tapfer in den Dschungel ging, um mit den Rebellen zusammen zu treffen, würde er sein Image für immer etablieren. Furchtlos! Das war er. Einer, der nach links und nach rechts hastet, und anscheinend für alles Zeit findet. Er beschwor sein Image herauf, das er nach diesem Akt der Tapferkeit haben würde. Wie er über seinen alten Computer in der Agentur gebeugt sitzt und für die Presse Stories schreibt. Wie er tiefschürfend über die Probleme des modernen Mexiko schrieb. Wie er Briefe an Literaturagenten und Verläge schickt. Und am Nachmittag würde er mit seinen Informanten in gedämpftem Ton in diskreten Cafes und randvollen Bars reden.

 

    Nichts desto weniger, die Furcht war da, sie stieg aus seinen Eingeweiden hoch. Er hielt sich am Geländer fest, als ob es um sein Leben ginge, - er war der einsame Mann, der am Rand des Abgrunds torkelte, der durch unvorhergesehene und unwägbare Umstände gezwungen war, sich seinem Schicksal zu stellen. Sollte sein Leben jetzt wirklich an diesem Punkt eine solche erstaunliche Schicksalswendung erfahren? Ein Finale an den Westhängen der Sierra Madre?

    Wie er so nach Westen in die untergehende Sonne starrte, voll Angst, fühlte er sich zwischendurch dennoch in die Sackgasse seines Traums vom Ruhm getrieben. Dieser Traum dämpfte das Bisschen Skeptik, das er noch hatte. “Wenn es wahr ist, dass Skeptik eine Waffe ist,” so gab er sich zu, “dann bin ich wehrlos.” Aber gleichzeitig tauchte ein neuer Faktor auf. Es wurde ihm bewusst, dass tief verborgen in seinem Charakter immer schon ein Rachegelüst gewesen war, Rache, die jetzt nach Befriedigung schrie. Rache für seine eigene Vergangenheit, die er nie selbst bestimmt hatte. Rache für dieses System von Ordnung und Recht, das ihn umgeben hatte, so dass er sein eigenes Sein nie bestimmt hatte. Und während er über den Rand in die tiefstehenden Strahlen der sinkenden Sonne starrte, schien es ihm, dass eine Kette von Versagen, Unglück und ein erbarmungsloses Schicksal sein Leben betroffen hätten. Er wollte etwas riskieren.

    Die Menschheit war geteilt auf der einen Seite in die Gerechten, die Guten, die, welche recht hatten und erfolgreich waren, und auf der anderen in Tagediebe und Verlierer, die durch das Leben taumelten, immer in der Hoffnung auf ein Geschenk des großen Glücksgottes. Er hatte immer geglaubt, er gehöre zu den ersteren. Aber nun hatte er so seine Zweifel. Zum ersten Mal sah er den Schatten, den verzerrten Umriss, den kleinsten Hinweis auf sich selbst als den Narren, der er war, und zugleich, wenn auch undeutlich, sah er sich als einen Mann mit einer Bestimmung. Eine widersprüchliche Dualität. Wo würde ihn sein gewundener Weg hinführen?

 

    Am nächsten Morgen kam Miranda zu ihm in die Wohnung. Sie hatte mit General Ortega geredet. Es war alles arrangiert. Jerry brauchte nur zu ihm in sein Hauptquartier in der Haupstadt des Staates Guerrero zu kommen. Chilpancingo war eine kühle Stadt auf 1000 m Höhe zwischen Mexico City und Acapulco, 130 Kilometer weiter im Süden, er könne mit dem Bus leicht in einem Tag dorthin kommen. Für die erste Nacht könne er sich ein nettes Hotel finden. General Ortega würde sich dann später seiner annehmen.

    “Passt glänzend!” Die helle Morgensonne des Hochlands stimmte ihn optimistisch. Wenn die Rebellen dort in den Hügeln der Umgebung saßen, dann konnte es wohl nicht so schrecklich schwer sein, sich mit ihnen zu treffen. Höchstwahrscheinlich unterhielt General Ortega eine ständige Verbindung mit den Rebellenführern.

    “Ich fahre gleich morgen,” bellte er. “Du kannst General Ortega ausrichten, dass ich mich übermorgen bei ihm melde.”

    ”Der Würfel ist gefallen,” sagte er immer wieder zu sich, während er durch die Stadt ging. Auf der Straße der Gerechtigkeit, oder des wankelmütigen Schicksalsgottes, Jerry war sich nicht sicher, welches von beiden, aber die Entscheidung war getroffen.

    Er sagte dem Chefredakteur des lokalen Wochenblattes im Flüsterton, dass er bald einen Knüller vorlegen werde, aber dass das noch ein Geheimnis bleiben müsse, bis er die Story sicher in Händen habe. Dann telefonierte er mit Riley, sagte, er sei an einer aufregenden Sache dran, er würde ihm die Einzelheiten nach seiner Rückkehr mitteilen, in einer Woche oder so.

    Am Abend packte er in seinen Koffer ein extra Khakihemd und Hosen, schwere Schuhe, etwas Unterwäsche zum Wechseln und ein rotes Halstuch, das er besonders liebevoll zusammen faltete. Für das Hügelland und den Dschungel packte er noch ein Moskitonetz und Insektenschutzmittel, Desinfektionsmittel für das Wasser und Antihistamine gegen seine Allergien ein. Für Acapulco nahm er kurze Hosen, eine Badehose und Strandsachen mit. In eine kleinere Tasche packte er seine zwei Kameras, mehrere Rollen Farb- und Schwarzweißfilme, ein Aufnahmegerät mit zusätzlichen Kassetten, ein Radio, Feldstecher, Landkarten, die er im Bus studieren wollte, Notizblöcke und Schreibzeug. Seinen Laptop würde in der Hülle über die Schulter hängen.

    Am nächsten Morgen stieg Jerry, in Khaki gekleidet und mit einem neuen Panamahut, in den Frühbus nach Mexico City. Heute konnte er über die seltsame Angewohnheit der Mexikaner, in den Erste-Klasse Bussen alle Vorhänge zuzuziehen, lachen. Trotz der Dunkelheit fühlte er sich sorgenfrei. Er dachte keinen Augenblick an die Möglichkeit, einen Rückzieher zu machen. Die Dinge waren nicht mehr unter seiner Kontrolle.

 

    Documento!” Der Presseoffizier, ein kleiner Mann mit Schnauzbart, empfing ihn in einem geräumigen Büro neben der Empfangshalle des Regierungsgebäudes in Chilpancingo. Er streckte die Hand ungeduldig aus und schien Jerry mit einer gewissen Belustigung in den Augen zu mustern, bevor er eine lange Namensliste durchsah. “Ah, si, esta su nombre, da stehen Sie ja, -  Scott, Gerald. Verdad! Richtig! Periodista? Ein Zeitungsschreiber?” er grinste dabei.

    Escritor! - Schriftsteller” antwortete Jerry.

    Por supuesto! - Vermutlich! Oh, ich sehe, Sie haben einen besonderen Weg. Perdone Ud. - Entschuldigen Sie.”

    Cuando puedo …” setzte Jerry an. Dann auf Englisch: “Wann kann ich Herrn General Ortega sehen?”

    “Morgen Mittag. Wenn die anderen Journalisten zur Rundreise durch unseren schönen Staat aufgebrochen sind. Dann können Sie mit dem General reden. Natürlich alleine.”

    “Natürlich.”

    An dem Abend, nachdem er sich im Kolonialhotel gegenüber vom Palacio de Gobierno und einer riesigen Bronzeskulptur mit dem Titel “El Hombre Hacia el Futuro,” "Der Mensch auf dem Weg in die Zukunft" gemütlich eingerichtet hatte, telefonierte Jerry mit Miranda in San Miguel Allende und sagte ihr, er sei gut angekommen und er bedanke sich, dass sie das Treffen mit General Ortega arrangiert habe.

    “Von meinen Fenstern im Hotel Central,” sagte er mit dünner, unnatürlicher Stimme, “kann ich die Berge sehen. Alles ist in bester Ordnung. Ich werde mich bei General Ortega morgen Mittag melden.”

   

    Beim Frühstück am nächsten Morgen war er seltsam abwesend. Als ob er gar nicht er selbst wäre. Oder als ob er auf einem Touristenausflug wäre und auf einen Anschluss zu seinem Bestimmungsort warte. Er war früh wach geworden. Seine Stimmung war beinahe frivol. Aber irgendwie fernab. Er war sich bewusst, dass er keine Spannung verspürte. Auch überhaupt keine Furcht. Er dachte kaum daran, wo er hier war. Irgendwie schien ihm der Grund, warum er hier war, zu entgehen. Und fast wie wenn es ihm nachträglich eingefallen wäre, schlenderte er die Straße am Zocalo vorbei zur Busstation Estrella de Oro. Und als ob es ihn kaum persönlich betreffe, sah er die Abfahrten nach Acapulco nach, überrascht darüber, dass jede Stunde Expressbusse gingen. Er ging auf die öffentliche Toilette. Dann kaufte er sich eine Zeitung. In einem Cafe im Freien gleich neben dem Busbahnhof bestellte er sich einen Kaffee und einen Cognac. Die Guerrillas, die Berge und General Ortega kamen ihm überhaupt nicht in den Sinn. Das existierte alles kaum. Das lag alles nicht in seinen Händen, so wie Mexiko selbst auch. Einen Augenblick erinnerte er sich daran, dass er nur in das Regierungsgebäude gehen und nach dem General fragen brauchte, dann wäre der Würfel wirklich gefallen. Ein für alle Mal.

    Im Hotel schaute er zum hundersten Mal auf die Uhr. Er ging noch einmal zur Toilette. Und doch fühlte er scheinbar eine große innere Ruhe in sich, während er seine paar Habseligkeiten nahm, sich den Laptop über die Schulter hing, und dann hinunter ging, um das Hotel zu verlassen.

    Vor dem Eingang zum Palacio de Gobierno blieb er stehen und setzte sein Gepäck am Boden ab. Er sah zu den Wachen hinüber und zu den Leuten, die da aus und ein gingen. “Wo sind die anderen Journalisten heute … die periodistas?” fragte er einen jungen Wachsoldaten.

    Ya se fueran.” Die sind schon weg. Der Wachsoldat zuckte die Achseln und wandte sich um.

    Jerry schaute noch einmal auf seine Uhr, schüttelte sie und hielt sie an sein Ohr. Es war Mittag. Wenn doch nur wenigstens ein anderer Journalist mit ihm mitkäme! Dann hätten sie zusammen in die Berge gehen können. Aber er war alleine, wie immer. Geistesabwesend schaute er den Wachsoldaten an. Er schaute sich auf der Straße um. Ein Gefühl von Gewichtlosigkeit überkam ihn. Es schien ihm, als wäre er bloß ein Beobachter der Ereignisse. Er zuckte die Achseln, ging zu der schmalen Eingangstüre und fragte nach General Ortega.

    Am Schalter eines kahlen Raums im Patio nahm ein älterer Wachsoldat mit Streifen an den Ärmeln seinen Pass, starrte ihn einen langen Augenblick an, bevor er sein Dokument in eine Schublade legte, ihm einen Plastikpass aushändigte und einem Soldaten befahl, ihn nach oben zu geleiten.

    Jerry folgte ihm gehorsam wie ein Roboter die breite Treppe hinauf. Er war in ihren Händen. Er brauchte nur Befehlen folgen. Ein schmaler, blassgesichtiger Offizier stand mit wichtiger Miene in der breiten Türe eines Bürso im zweiten Stock.

    “Kommen Sie bitte herein, Herr Scott. Leider wurde General Ortega zu einer dringenden Generalstabssitzung in die Hauptstadt gerufen. Er bat mich, ihnen die militärische Situation hier auseinander zu setzen und ihnen allen nötigen Beistand zu geben, damit Sie sich mit den Rebellen treffen können.” Der kleine, zarte Offizier sprach lupenreines Englisch, von der Art, wie es die Mexikaner der Oberschicht an den besten amerikanischen Universitäten lernen.

   “Zuerst habe ich für Sie das Empfehlungsschreiben von General Ortega an den Comandante der Guerillas in dem Gebiet, das wir als relativ sicheren Teil unserer Provinz ansehen. Und ich freue mich, dass ich sie darüber informieren kann, dass Comandante Arturo augenscheinlich gutes Englisch spricht. Das sollte Ihre, äh, Mission erleichtern.”

    Jerry grinste, wie er selbst bemerkte, idiotisch. Immer noch von diesem Gefühl befallen, dass ihn das gar nichts anginge, registrierte er die Worte des Offiziers kaum. Er hatte noch kein Wort gesprochen. Als ob ihn das alles gar nicht interessierte. Was sollte das alles überhaupt bedeuten? Seit er San Miguel Allende verlassen hatte, war ihm jeglicher Wille abhanden gekommen. Er setzte einfach einen Fuß vor den anderen und trottete voran. Eine Änderung kam gar nicht in Frage. Er hatte den abgedunkelten Bus nach Mexico City genommen. Wie ein Automat war er zum Nordbahnhof gefahren, und nun war er hier, mit einem Brief für einen Rebellenführer in der Hand. Ob er wollte, oder nicht, der neugierige Journalist stand absprungbereit zu einem Sprung in das Dunkel.

    “Blöd, dass ich nicht mit den anderen Journalisten mitfahren konnte,” murmelte er und blickte dabei auf seine Hände, die noch den Brief des Generals hielten.

    “Ah, na ja, das bedeutet wenig,” sagte der Adjutant mit einem trockenen Lächeln. “Die machen eher so einen Touristenausflug. Sie wissen schon, Essen mit den lokalen Behörden, Besuche von Landwirtschaftsbetrieben, so auf die Art. Sie dagegen sind hinter der wirklichen Sache her. Nur Sie werden einen Rebellenführer treffen können. Nun, Señor Scott, hier ist der Plan. Sie müssen in das Dorf Los Altos oben in der Sierra Madre del Sur hinauf. Der Bus nach Puerto del Gallo, der in Los Altos hält, fährt um 15 Uhr vom Busbahnhof ab, da haben Sie noch genug Zeit für ein Mittagessen in unserer ruhigen Stadt. Dorthin brauchen Sie ein paar Stunden. Nun, an der Tankstelle, wo der Bus hält, fragen Sie nach Comandante Arturo. Irgendjemand wird sie dort mitnehmen. Und, äh, machen Sie sich keine Sorgen, wenn Ihnen die Augen verbunden werden, oder wenn Sie stundenlang rumgefahren werden. Sie sind eben sehr auf ihre Sicherheit bedacht.”

    Jerry hörte sich das wie von der Ferne an. Der Adjutant hatte einen seltsamen Blick in den Augen. “Äh, sind meine Anweisungen klar?”

    “Oh ja, klar.”

    “Übrigens, Sie kommen, äh, ziemlich hoch auf die Berge hinauf.” Der Offizier ließ seine Augen belustigt von Jerrys Panamahut zu seinen eleganten Khakihosen schweifen. “Nachts ist es da ziemlich kalt, wissen Sie.”

    “Oh, na ja,” sagte Jerry.

 

    Ich fange an, mich in dieser Stadt heimisch zu fühlen, dachte Jerry vage auf dem Rückweg zur Busstation. Er war hier nur achtzehn Stunden gewesen, aber die vertraute Hauptstraße und die Amtsgebäude schufen um ihn eine Atmosphäre der Sicherheit. Als wäre er auf der Peachtree Street in Atlanta in der Nähe von Five Points. Da hätte er die U-Bahn nach Buckhead genommen und vielleicht bei einem Italiener zu Mittag gegessen. Die Scheidung, die Trennungen, die Entfremdung, das war alles gar nicht passiert. Er wurde sich bewusst, wie leicht es war, San Miguel und Miranda und, ja, die kleine Zeitung und sogar die Schriftsteller zu vergessen. Wenn da nicht dieses Bauchgrimmen gewesen wäre, sich die sinnlose Sache in Erinnerung zu rufen, die er sich vorgenommen hatte, die er machen würde, das reichte schon. Was gingen ihn die Guerillas an? Und was der arrogante General Ortega?

   An der anderen Straßenseite vom Busbahnhof blieb er plötzlich stehen und setzte sein Gepäck ab, während er in einem Moment der Klarheit sich dessen bewusst wurde, dass er nie einen Gedanken auf den wirklichen General Ortega verschwendet hatte. Er wusste nur, dass ihn Mirandas Vater abgelehnt hatte. Aber was war der General überhaupt? Ortega war nur ein ambitionierter, zynischer, gesetzloser autoritärer Reaktionär, der Willens war, mit dem Teufel zu paktieren, wenn es nur seinen Zwecken diente. Warum konnte dieser Mann bedenkenlos den Rebellen ein Opfer ausliefern. Damit er mich aus dem Leben seiner kostbaren Tocher enfernen kann! Für immer. Ohne mit der Wimper zu zucken. Ich bin ein Niemand. Noch nicht einmal ein akkreditierter Journalist. Wie könnte mich da die Regierung schützen? Ich habe nur Mirandas Anweisungen befolgt. Vielleicht … könnte es sein … dass sie da auch mit drin steckt?

   

    Langsam überquerte er die breite Straße, kühn, sah sich kaum nach den stinkenden Bussen, den röhrenden Lastwagen und den hupenden Taxis um. In der Haupthalle studierte er noch einmal die Abfahrtszeiten an der Tafel. Da – Estrella del Norte, Acapulco, 15 Uhr, Bahnsteig Nummer 1. Und weiter unten bei den Lokalbussen und kleineren Linien, Nacional, Puerto del Gallo, 15 Uhr, Bahnsteig 32.

    Sein Gepäck zu seinen Füßen, der Computer hing schwer an seiner Schulter, gab er sich einen Moment lang zu, dass er nur etwas Außerordentliches tun wollte, zu dem er in seinem sicheren Leben zu Hause nie die Gelegenheit gehabt hatte. Es war die anziehende Idee, ein Risiko einzugehen. Irgendetwas Außerordentliches zu tun. Und es war jetzt oder nie. Er schaute zu seinen Füßen hinunter und sagte zu sich selbst, dass er jetzt, ein für alle Mal, wählen musste, was er sein wollte, Handelnder oder Beobachter. Und doch fühlte er, dass jede Entscheidung nur falsch sein konnte. Und dann, was hatte er in seinem Leben schon je entschieden? Selbst, dass er nach Mexiko gekommen war, konnte man schwerlich eine Entscheidung nennen. Seine Ex-Frau hatte, als er ihr stolz sagte, er habe sich entschieden, nach Mexiko auszuwandern, nur gesagt, er wäre gezwungen, zu fliehen. Wie er es auch sogar bei kleineren Konflikten ihres ruhigen Lebens in Buckhead getan hatte.

    Dankbar fühlte er das beruhigende Gefühl des Fernseins wieder zurückkehren. In Gedanken trat er einen Schritt zurück. Er zog sich zurück. Er war wieder weit weg. Weit weg von den vertrauten Dingen. Er schwebte. Weit weg von der vertrauten Vergangenheit. Weit weg von sich selbst.

    Jerry griff in seine Safaritasche. Er zog den Brief von General Ortega heraus, zerriss ihn sorgfältig in kleine Stücke, und warf ihn in einen Abfallkübel. Ein Brief von ihrem Feind wäre eine Katastrophe, wenn es richtige Guerillas waren. Und wenn nicht, dann brauchte er ihn nicht. Er rückte seinen Panamahut zurecht, zog den Riemen seines Laptopkoffers näher an den Hals, nahm seine beiden kleinen Taschen auf, ging hinüber zum anderen Ende des Busbahnhofs, und mit einer neuen Beschwingtheit in seinem Schritt stieg er in den Bus nach Puerto del Gallo ein.

Gaither Stewart can be reached at GaitherStewart@libero.it