Laufen Nicht Gehen

von Yves Jaques

 

Der Indianer ist sturzbesoffen. Jeder einzelne Schritt, den er über die Kreuzung macht, wirkt ebenso planlos und zufällig wie der vorige, seine Beine heben sich, seine Hüften schwingen in einem unfassbaren Rhythmus. Der Fuß senkt sich, das Bein setzt auf, und der ganze Prozess beginnt von neuem.

Ich sitze auf dem Beifahrersitz und starre über drei Kolonnen von Fahrzeugen auf das blinkende Haltesignal der Fußgängerampel. Genauer gesagt ist es eines dieser modernen Schilder, ein roter Mann, die Arme in die Hüften gestützt, erscheint und verschwindet im Takt mit dem hämmernden Stereosound des neuesten U2-Albums, während Bonos Stimme die verzerrte Gitarre übertönt. U2 ist offenbar eine der Lieblingsbands der jungen Anzugtypen, die meine Kunden sind. Wie der neben mir, David Philip. Ich habe mich immer gefragt, ob seine Familie ihren Namen irgendwo auf dem Weg hierher verloren hat und daher einen weiteren Vornamen hinten anhängte. Einmal habe ich ihn danach gefragt. Er sagte, er habe keine Ahnung, aber er sei einmal auf Ellis Island gewesen, als Teenager, bei einem Familienurlaub. Nachdem sie die Insel besucht hatten, hätten sie eine große Diskussion geführt rund um die Möglichkeit, ob ein Beamter der Einwanderungsbehörde einfach ihren Nachnamen verpfuscht hätte. „D’Angelo“, meinte er zu mir, „Was zum Teufel ist das überhaupt für ein Name? Ich wette, Deinen Namen haben sie auch verpfuscht.“

Der rote Mann blinkt immer noch. Ich habe mitgezählt und bin bei neun. Der Indianer ist jetzt vor dem Auto neben uns, und ich betrachte den Kontrast zwischen dem steinernen Freitagnachmittagblick des Fahrers und dem Alkohol schwangeren Grinsen des betrunkenen Indianers. Das ganze wäre eine Pattsituation, aber der Fahrer im anderen Auto schaut glatt durch ihn hindurch.

Die Straßenmenschen erinnern mich jetzt immer an Zigeuner. Die Indianer auf den Straßen – nach außen hin erinnern sie mich an Zigeuner, die gleiche, bunt zusammen gewürfelte Kleidung, das gleiche dicke, fettige Haar.  Ich denke, sie sind alle irgendwann von Asien gekommen. Ich war immer der Meinung, Zigeuner kämen nur im Zirkus vor – Wahrsager mit Kristallkugeln oder Schwertschlucker – bis vor einigen Jahren, als ich einen wirklich guten Abschluss gemacht hatte und dachte, ich hätte mir zur Belohnung einen kleinen Urlaub verdient. Ich fuhr nach Italien, spulte das ganze, übliche Touristenprogramm ab: Florenz, Venedig, Rom. Trank jede Menge. Ging in Museen. Schnappte mir ein paar Nutten.

Ich befand mich auf einer Brücke über den Tiber in Rom, als eine Gruppe dieser wirklich farbenbunt gekleideten Kinder in meine Richtung rannte und dabei Zeitungen und Trockenblumen schwenkte. Ich erinnere mich, dass die Art, wie die Mädchen gekleidet waren, mich an die New-Wave-Sängerin der 80er, Cyndi Lauper, erinnerte, die immer in einer Mülltonne auf der Bühne herumflitzte. Diese Kinder wirken wie Abfalleimerkids, dachte ich bei mir. Die kleinen Scheißkerle haben auch mich komplett ausgenommen. Ich fühlte alle diese geistergleichen Finger, wie sie durch meine Taschen kämmten. Sie schoben mir die Blumen und Zeitungen zu, wobei sie ununterbrochen und laut in Italienisch auf mich einredeten. Zumindest glaube ich, es war Italienisch. Bis ich kapiert hatte, was da vor sich ging, waren die Kinder schon einen halben Block entfernt und liefen, wie nur Zehnjährige laufen können. Ich versuchte nicht einmal, sie einzuholen. Das waren Zigeuner, wie ich später im Hotel vom Rezeptionisten erfuhr. Ich habe eine Menge Gauner gesehen, aber das war professionell. Nach diesem Erlebnis begann ich sie überall zu bemerken, und immer in verrückten Aufmachungen. Stimmt, die Männer trugen Anzüge, aber immer welche, die für einen anderen geschnitten waren, und immer auf eine gewisse Art schmuddelig.

Wie der Indianer auf der Straße. Jetzt ist er vor unserem Auto. Ich bemerke, dass er tatsächlich eine Krawatte umgebunden hat, seine Kleidung ist sogar farblich abgestimmt: braune Hosen, braunes Jackett, violette Krawatte. Er geht immer noch seinen verrückten Gang, ein Bein kommt hoch, die Hüften schwingen, dann senkt sich der Fuß und das Bein setzt auf. Immer ein Schritt nach dem anderen. Jetzt grinst er höhnisch in unsere Windschutzscheibe. Die Zeit verlangsamt sich – kennen Sie dieses Gefühl? Das passiert jedem. Wenn es mir passiert, dann habe ich das Gefühl, als hätte ich jede Menge Zeit, um alles in Reichweite meiner Augen und Ohren anzusehen und darüber nachzudenken. Der Geruch von Diesel katapultiert mich immer noch schnurstracks zurück an die Bushaltestelle an der Straßenecke, an der ich immer wartete, um in die Schule zu kommen. Die Zeit entfaltet sich. Aber normalerweise kommt irgend etwas daher, was mich wieder direkt aus der Zeit zurück holt. Normalerweise ist das der Moment, in dem ich realisiere, dass ich mich gerade mitten in einem Standbild befinde. ‚Standbild’, so nenne ich das. Wahrscheinlich habe ich das irgendwo gelesen.

Aber manchmal, so wie jetzt, kann ich darüber nachdenken - und es dirigieren. Also nehme ich einfach sein Gesicht herein – das Gesicht des Indianers. Ich mache das, weil, wenn man so lange in der Stadt gelebt hat wie ich und mit so vielen Freaks zu tun hatte wie ich, dann beginnt der Verstand ganz einfach von selbst, abzustempeln und fallen zu lassen. Der Typ ist ein Freak, denkt man dann bei sich, er wird in den ‚Freak’-Stapel eingeordnet, und die Sache hat sich. Und wenn einen dann ein Polizist fragt, wie er aussah, dann ist man nur in der Lage, zu sagen: „Er sah irgendwie wie ein Freak aus.“ Deshalb versuche ich, das zu umgehen.

Die erste Sache, die mir ins Auge sticht, sind seine Poren – diese großen Poren an seiner Nase. Die Menschen reden immer über die ‚rote Nase’ der Alkoholiker. Haben sie jemals wirklich eine davon genauer angesehen? Klar, sie ist rot, aber was wirklich dabei auffällt, ist das schwarze Loch von Poren, mit denen die Nasenkuppe über und über besät ist, auf und ab, die ganze Strecke vom Rand bis hin zu den Nasenlöchern. Warum passiert das? Dabei läuft mir immer einen Schauer über den Rücken. Und seine Lippen sind so geschwollen und aufgesprungen. Sie wirken, als bäten sie um Wasser. Ich taste in meiner Tasche nach meinem Fettstift. Ich weiß noch nicht, ob der Anblick seiner Lippen ganz einfach in mir den Wunsch erweckte, meine Lippen einzucremen, oder ob ich nicht vielleicht das Fenster herunterlassen und ihm das Zeug in die Hand drücken sollte. Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht, weil ich mitten in der Aktion erstarre. Drei Dinge stechen mir im selben Moment ins Auge, und ich erstarre. Biiiiiild und –Klick- macht mein Schnellbild-Gehirn: der Mann auf dem Halt-Signal der Fußgängerampel hat zum letzten Mal geblinkt und bleibt stehen, bei einem Zähler von 19. Die Augen des Indianers, und ich weiß, es wäre poetisch zu sagen, ich hätte in diesem Moment seine Seele gesehen, aber das wäre eine Lüge – seine Augen sind so flach und tot. Genauso flach und tot wie Davids Augen. Jetzt ist David auf Koks, und ich nehme an, seine Augen wären so oder so flach und tot, aber das ist etwas anderes. Aufputschmittel und Beruhigungsmittel verweben sich miteinander. David und der Indianer teilen irgendwie denselben Raum.

Das sind also die drei Dinge, die ich bemerke. Aber da ist noch eine vierte Sache, die sich in mein Gehirn drängt: die beiden lächeln einander an wie zwei Stockbesoffene. Aber es gibt diesen Unterschied zwischen Alkohol und Koks: Das Lächeln des Indianers ist das warme, dämliche Lächeln eines Betrunkenen, der nicht bösartig wird. Davids Lächeln ist ein sprödes Kokslächeln. Alle Aufputschmittel, sogar Kaffee, haben eine Spur davon, sie machen dich herzlos. Nein, das stimmt nicht, sie entkoppeln das Herz von der Seele. Das ist der Grund dafür, dass Personen auf Ecstasy alles rund um sie herum umarmen – sie haben nicht ihr Herz gefunden, es ist vielmehr umgekehrt: der verzweifelte Hunger der Seele, die sich darum bemüht, dieses verfluchte Monster mit den vier Kammern zu finden und aufzuessen. David sieht aus, als lächle er innerlich über seine unglaubliche Selbstkontrolle, über die Selbstkontrolle, die ihn davon abhält, aufs Gas zu treten und dieses Stück menschlichen Abfalls mit seinem Luxusschlitten zu überfahren. Er lächelt über seine unglaubliche Beherrschung.

Viele Menschen nehmen Drogen, weil sie denken, dass sie so das Standbild bekommen. Wie David Philip, der hier auf dem Fahrersitz neben mir sitzt. Er macht hohe Einsätze auf dem Aktienmarkt, während er auf Koks ist. Nicht mit seinem Geld, er schöpft nur den Rahm ab. Ich bin auch nicht wirklich anders. David ist einer meiner letzten Koks-Kunden. Die anderen sind alle in die Schick-Shadel-Entzugsklinik gegangen und haben sich einer Behandlung unterzogen, oder sie sind auf die nächste hippe Sache umgestiegen, auf Heroin, was wirklich gut für mich war. Es kommt aus Mexiko, viel weniger weit weg von daheim. Viel einfacher zu bekommen als dieser Langstrecken-Multigrenzen-Scheiß aus Kolumbien. So heißt es zumindest. Was weiß ich? Ich bin ziemlich weit unten in der Hierarchie. Alles, was ich weiß oder worum ich mich kümmere, ist, wie regelmäßig meine Lieferanten sind - und wie regelmäßig meine Kunden. Und mit Heroin kommen sie regelmäßig.

David Philips dagegen – ich habe schon versucht, ihn loszuwerden an einen anderen Dealer, der noch mit Koks handelt, aber er mag mich, wir kennen uns schon ewig, sind alte College-Kumpels, aber nie wirklich eng befreundet. Damals, in jener Zeit, habe ich ihm immer etwas verkauft, meistens pfundweise Gras. Das hat mir durch die Schule geholfen. Ich kannte niemanden mit genug Geld, damit sich die Sache damals wirklich ausgezahlt hätte. Aber als ich auf die Puder umstieg, änderte sich alles. Jetzt bemühe ich mich nur darum, ein paar Bälle hier für den guten alten David Phillips zu behalten. Ich habe einen weichen Punkt. Ich habe versucht, ihn auf irgend etwas anderes zu bringen, aber will nicht umsteigen. Ich habe gelernt, dass Börsenmakler ein abergläubisches Pack sind. „Ich kann den anderen Scheiß nicht nehmen, es könnte meinen Radar beeinträchtigen, D’Angelo“, erklärt er, wenn ich vom Umsteigen spreche. Immer redet er von seinem verfluchten Radar. „Ich ziehe mir ein paar Linien hinein, und dann bin ich mitten in diesen Zahlen! Ich sage dir, das ist wie ein verfluchtes Link in die Zukunft. Ich kann die Trends richtig fühlen.“

Ja, Okay. Aber dann schau dich nur einmal um. Ich sitze in einem funkelnagelneuen Benz der Superklasse. Ich denke an Ice Cube, wie er "Me and my homeys, rollin’ in the Benzo" rapt. Es gibt nicht viel Unterschied. Man muss nur unter die Oberfläche gehen. „Und sie werden eines von zehn Eurer Schafe nehmen“, heißt es in der Bibel. Erstaunlich, wie sich der Katechismus in das Gehirn einbrennt. Ein Zitat für jede Gelegenheit. Das macht uns Katholiken so geistreich - ein Handbuch menschlicher Verrücktheiten, die Bibel, hat sich in unseren Gehirnen festgesetzt.

Rollin’ in the Benzo. Und schaut euch David an, in seinem Designeranzug von Gaulthier. Vielleicht funktioniert das Koks ja wirklich. Vielleicht treibt es ja deinen Geist voran, wenn du dein Herz von deiner Seele abspaltest? Ich weiß nicht, wohin. An irgend einen Ort, an dem du Aktien kapierst.

Der rote Mann blinkt ein letztes Mal. David und der Indianer haben tote Augen. Meine Hand liegt auf dem Fettstift in meiner Tasche. Der Mercedes heult auf und fährt los, es fühlt sich an wie Vierradantrieb, als die Pirelli-Reifen am schmuddeligen Anzug des Indianers greifen. Ich brülle irgendetwas, meine Hände fummeln an den verfluchten Knöpfen auf der Armlehne herum, die Fenster gehen hinauf-hinunter, hinauf-hinunter. David springt auf die Bremse. Ich fasse mich wieder und bekomme die Tür auf, sehe mich um, unsicher, ob der Indianer unter dem Auto ist oder dahinter, ich will nicht auf ihn treten. Ich steige aus und sehe, dass er unter dem Auto ist. Normalerweise würde mich so etwas aus dem Standbild katapultieren, aber das tut es nicht. Wenn sich überhaupt etwas ändert, dann wird es schlimmer. Die Dinge bewegen sich Bild für Bild, aber völlig ruckartig – ganz so, als ob man versucht, Zeitlupe zu fahren bei einem 2-Kopf-Videorecorder. Ein Teil des Verkehrs bewegt sich, die Fahrer haben nichts bemerkt oder wollen einfach nichts wissen. Andere sitzen einfach in ihren Autos, und ihre Münder bewegen sich ganz komisch. Nichts erregt die Masse so sehr wie eine Katastrophe. Die Autos auf den Gegenverkehrsbahnen werden langsamer, die Fahrer verdrehen ihre Köpfe um besser zu sehen. Und dann fährt Philip ein zweites Mal los. Das Heck des Wagens holpert auf und ab wie eine Pferdekutsche auf einer Straße voller Schlaglöcher, als das linke Rad den Indianer überrollt. David ist weg.

Und dann ist alles ruhig. Aber es ist nicht so wie in den Kinofilmen. Indianer, die getroffen wurden, sollen würdevoll zu Boden fallen und still liegen bleiben. Aber genau in dem Moment, als der erste Pilger den Indianer erreicht und sich hinunter auf die Knie beugt, um näher zu kommen, bewegen sich die Beine des Indianers. Seine Beine beginnen wild zu schlagen, wie ein Pferd, das bei einem plötzlichen Donnerschlag scheut; er tritt so wild um sich, dass sein unterer Rücken vom Asphalt abhebt. Der Himmel fallen ein paar Tropfen, und die Luft trägt diesen herrlichen Sturmgeruch. Was für ein Augenblick zum Sterben. Der Indianer dagegen hat noch einen langen Kampf vor sich. Seine Arme bewegen sich jetzt, sie wedeln spastisch, es sieht so aus wie ein Versuch zu fliegen in einem Comics. Ich erinnere mich an jenen Augenblick, als Evan McBride, ein Epileptiker, der mit mir auf die Junior Highschool ging, einen Anfall während des Turnunterrichts hatte. Wir waren gerade bei den Aerobic-Übungen. Unser Lehrer, Mr. Reynolds, war einer der Aerobics-Pioniere. Evan hatte eine volle Attacke, mitten in der Unterrichtsstunde. Ich erinnere mich noch, dass gerade ein Blondie-Song gespielt wurde‚ ‚The Tide is High’, glaube ich. Mr. Reynolds bemerkte Evans praktisch sofort, glaube ich, denn im einen Moment führte er noch die Klasse, und im nächsten rannte er vom Zentrum der Turnhalle her und riss sich dabei das T-Shirt vom Leib. Er war gut gebaut. Ich machte gerade Hampelmänner oder etwas in der Art und starrte verdattert meinen Freund Jimmy an. Stumm bewegten sich unsere Lippen, formten sich zu der Frage, die wir uns gegenseitig stellten: ‚Was zum Teufel macht Reynold da?’ Die Antwort war natürlich, dass er sein T-Shirt in Evans Mund rammte, damit sich Evan nicht seine verfluchte Zunge abbeißt.

Ich stehe im Kreis der Gaffer. Wir alle starren nur hinunter auf den verwundeten Indianer, als wäre jeder von uns vollkommen allein. Der Wind hebt sich ein wenig, bläst einen Schleier von Regen in unsere Gesichter. Es riecht so gut, nicht wie in der Stadt, mehr nach Erde, oder nach offener Prairie. Ich bemerke eine Frau, die sich von der Meute löst und sich in eine Seitengasse durchschlängelt. Sie kniet auf den Beton nieder und erbricht sich in ein quadratisches Beet voller Schmutz. Erst dann sagt ein Typ: „Ich rufe den Rettungsdienst.“ Er läuft zu seinem Wagen und hat sicher von seinem Handy aus telefoniert, denn nur ein paar Minuten später hören wir alle die Sirenen. Und es wirkt wie ein paar Minuten und nicht wie einen Ewigkeit, denn an einem Punkt habe ich den Standbild-Modus verlassen. Jetzt stehe ich nur dort, spüre die Kälte in meinen Fingern, und die Nässe, die durch meine dünnen Capezio-Sohlen steigt. Der Indianer hat aufgehört, sich zu bewegen. Ich bin mir nicht sicher, wann.

Die Cops kommen. Sie steigen aus ihren Wägen, schon in gelbe Regenjacken gehüllt. Sie laufen in der Menge umher, wie träge Bienen, stellen Fragen, machen Notizen, schreiben Namen und Telefonnummern auf. Ich bestreiche meine Lippen mit etwas Fettstift. Der Indianer liegt ruhig da. Ich hoffe, er stirbt nicht. Jim Morrison hatte diese Idee, dass die Seele eines Indianer, den sein Vater überfahren hatte, in seinen Körper geschlüpft sei. Die letzte Sache, die ich brauche, ist, dass der betrunkene Geist dieses verrückten Indianers in mich fährt. Seltsam, wie kann man wissen, dass etwas Bockmist ist, und es doch gleichzeitig fühlen, fürchten?

„Kennt irgendjemand diesen Mann?“, höre ich einen Polizisten rufen.  Ich weiß nicht warum, aber langsam hebe ich meine Hand. Nein, es ist eher, als würde sich die Hand träge von selbst heben, wie ein erschöpfter Heliumballon.

„Ja, ich,“ sage ich. „Er ist mein Cousin.“

Der Polizist kommt zu mir. „Waren Sie mit ihm hier zusammen?“, fragt er sanft.

Ich sehe mich in der  Menge um. Fixiere den Polizisten. „Nein, ich habe ihn Jahre lang nicht gesehen. Ich kam zufällig hier vorbei. Wie heißt es so schön? Die Welt ist klein.“

Ein paar Menschen in der Menge beobachten mich seltsam. Ich kann sehen, dass ihnen alles unwirklich vorkommt. Einige von ihnen müssen bemerkt haben, dass ich aus Davids Wagen stieg. Aber wer kann in einer Krisensituation schon sicher sein? Ich habe diese Filme in Psych 101 gesehen, wo ein Typ in einen Raum läuft, eine Pistole abfeuert und wieder hinaus läuft. Was hat er getragen? Wie sah er aus? Man bekommt zehn verschiedene Antworten.

„Sind Sie sicher, dass das hier Ihr Cousin ist?“, fragt der Polizist.

„Klar bin ich mir sicher. Sehen Sie sich die Nase an – denken Sie, ich könnte eine solche Nase vergessen?“

Der Polizist schaut hinunter. „Ich denke nicht,“ erwidert er, „aber er ist Indianer.“

„Er ist kein Vollblut“, sage ich. „Seine Mutter ist eine Weiße.“

„Das ist recht seltsam“, sagt der Polizist langsam und sieht hinauf in den toten grauen Himmel. „Eine weiße Frau heiratet einen Indianer. Ich habe bisher nur davon gehört.“

„Wir sind Italiener“, sage ich, mit der Betonung auf dem ‚t’, das ich gegen meine Zähne perlen lasse.

Der Polizist nickt und zeigt auf die Sanitäter. „Wollen Sie mit ihm im Krankenwagen mitfahren?“

„Ja. Ich denke, das sollte ich wohl tun.“

„Haben Sie die Namen und Telefonnummern seiner Angehörigen?“

„Ich werde im Krankenhaus ein paar Telefonate machen.“

Der Polizist klappt sein Notizbuch zu. „Großartig. Warum gehen Sie nicht zum Krankenwagen und steigen ein.“

Ich überlege mir, in der Menge zu verschwinden, aber ich mache es nicht. Das hier erscheint am sichersten. Oder vielleicht möchte ich, dass er mein Cousin ist. Ich klettere in den hinteren Teil des Krankenwagens, setze mich auf die Bank gegenüber dem Sanitäter. Ich fühle mich taub. Wie der Indianer. Die Gesichter der Menge sind verzerrt und verschwommen durch die Regen bespritzte Rückscheibe des Krankenwagens zu sehen. Meine Knie sind an der Tragbahre eingeklemmt. Der Indianer seufzt leise. Der Fahrer fährt hastig ab. Als ich aus dem Fenster starre, sehe ich für einen kurzen Moment, wie der rote Mann aufblinkt.

 Yves Jaques yjaques@tiscalinet.it