Goldfischglas und 5-Gang-Bike

 

von Yves Jaques

 

Er kleidete sich wie ein Geschäftsmann. Er hatte einen Anzug für jeden Tag der Woche. Es waren keine schicken Dreiteiler, sondern abgerissene Klamotten, mit fransigen Nähten aus dem erstbesten Material, das gerade zur Hand war, Nähseide oder das zweckentfremdete Garn einer aufgetragenen Socke. Die Morgen waren düster. Der Tag war noch ärger. Aber es gab dieses Ritual des Ankleidens, und dieses Ritual gab ihm eine Struktur, um sein unstrukturiertes Leben zu leben.

Er nahm sein Fahrrad für alle Strecken, außer der Strecke zum Haus seiner Mutter, für die er den Bus nahm, eine Verbeugung vor ihrem seltsamen Sinn für Anstand und Sitte, der eine Fahrt mit dem Autobus auf eine Ebene über jegliche Art von Transportmittel stellte, die vom Menschen selbst angetrieben werden. Er wäre die fünfzehn Meilen zu seiner Mutter nur allzu gerne mit seinem lackierten 5-Gang-Bike von Sears gefahren. Eine silberfarbene Schönheit, die lange schon zu seinem Rhythmus genickt und dabei ein ganzes Set von Protestbekundungen entwickelt hatte – heute Klirren, morgen Scheppern.

Dieses Fahrrad fuhr er nicht, weil er sich im technikfeindlichen Sinne der Luddit-Tradition nach der vorindustriellen Einfachheit der Dinge gesehnt hätte. Er genoss ganz einfach in vollen Zügen die heilige Freude daran, in die Pedale zu treten, und dieses Gefühl, sein Verkehrsmittel selbst anzutreiben, machte aus 20 Meilen die Stunde 100. Die ganz bestimmte Art, wie der Wind seine Ohren küsste und seine Arme liebkoste, war einfach mit keiner anderen Fortbewegung zu vergleichen. Klar, er war auch schon in ein Auto gezwungen worden, triumphierend hatte man ihn auf den Vinyl-Rücksitz gesetzt. Aber hinter dem Lenkrad fühlte er sich, als würde ihm etwas die Luft abschnüren, er fühlte sich alt und musste gegen den Drang ankämpfen, seinen Kopf durch das Fenster zu stecken und in großen Zügen Luft einzusaugen.

Und sie? Sie hatte immerhin ein Kostüm, Spades – ‚Pik’, dieser natürliche Trumpf, das invertierte Herz, das keine Einschränkungen kennt. Ihre Kleidung musste sehr verschlissen sein, um sie nicht einzuschnüren. Und das war nicht die unschuldige Sehnsucht einer Bohémienne. Ihr Körper konnte Baumwolle nur so leidend ertragen, dass er gleich Lazarus zwischen Webstuhl und Samenkapsel gebettet war. Für sie bedeutete das einen fast schon obszönen Luxus.

Sie paradierte immer und überall hinter dem Steuer eines Fabelwesens, eines Monsters aus gurgelndem Detroit-Stahl. Seit jeher im Besitz ihrer Familie, sang dieser Achtzylinder das Knallen und Rattern der niedergehenden Schwerindustrie des amerikanischen Rust Belt, der wütenden Ingenieure, die sich mit Hammer und Kolben schlagen.

Diesen Wagen fuhr sie nicht als Imitation eines maskulinen Willens zur Macht. Sie tat es wegen dem begeisterten Singsang der Maschine, und wegen dem verträumten Goldfischglas-Horizont der Windschutzscheibe, wegen dem übergroßen Rücksitz und dem Aschenbecher, der ein Päckchen pro Tag fassen konnte. Ja, es war eine durstige Maschine – das Abzapfen von Benzintanks war ihr nicht fremd – und nein, sie war keine rücksichtslose Person, es wäre nur schlicht sinnlos gewesen, mit Genügsamkeit gegen dieses Monster anzukämpfen. Das Monster wog schwerer als solche Überlegungen.

Sie liebte es, durch die Water Street zu rollen, ein Kinderspiel von einem Ende zum anderen, beide Füße auf den Pedalen, die Hand auf der Fensterseite klopfte leise auf das stählerne Dach. Hier gab es keine Haarnadelkurven, keine Schikanen; die Straße saugte am runden Mund der Bucht. Und so steuerte sie mit den Knien, sang laut die Worte der AM Radio-Hits, die schmalzig aus dem Armaturenbrett troffen.

Er liebte es, durch die Water Street zu rollen, wegen dem Weitwinkelblick, ein Auge auf die Straße gerichtet, während das andere müßig in der Augenhöhle trieb. Für ihn bedeutete die Bedächtigkeit dieser Straße und null Steigung, dass sich seine Finger hinter dem Nacken verschränkten; eine Fahrt ohne Hände am Lenker, nur Pedale und Atmen. Er war ein kreisendes menschliches Gyroskop, aufrecht thronend und strahlend, sogar an Tagen mit hundsgemeinem Wetter.

Es gab einen Punkt, wo die Water Street die First Avenue kreuzte, an der schmalsten Fuge der Bucht; ein verschlungenes Zusammenfließen von Fernverkehrsstraße und Bahn, auf dessen Gehsteigen nur selten Fußgänger zu sehen waren. Als an der Kreuzung First und Water ihre lenkenden Knie daran scheiterten, Vorrang zu geben, und sein müßiges Auge es verabsäumte, in beide Richtungen zu sehen; als er in einem eleganten Bogen hoch über die Motorhaube ihres Wagens flog, um mit gebrochenem Genick zu landen, und sie, mit offenem Mund laut singend die Kontrolle über das Monster verlor, um die Wasser der Bucht zu trinken, wurden ihre aufsteigenden Seelen geschnappt, für mischbar befunden, hybrid gemacht.

Ich möchte diesen Engel treffen.

 

Yves Jaques ist erreichbar unter yjaques@tiscalinet.it