Der Hundemann

von Gaither Stewart

 

Mai 2001

 

Die Hunde waren nicht über Nacht verschwunden. So war es keineswegs gewesen. In der Tat hatten die Leute in der Stadt gar nicht bemerkt, dass es jeden Tag weniger streunende Hunde gab, die zwischen ihren Füßen herumkrochen, während sie auf den Bänken im el Jardín ein Sonnenbad nahmen. Das zunehmende Fehlen der mageren braunen Hunde, - kurzhaarige Promenadenmischungen, bei denen die Rippen unten vorstanden -, die für gewöhnlich um Futter bettelten bei den Ständen, die rund um den Platz Esswaren feilboten, oder im Gänsemarsch die steilen Nebengässchen auf und ab streunten, nahm niemand zur Kenntnis.

     Selbst wenn die Stadtleute auf sie einen Gedanken verschwendet hätten, würden sie wohl geschlossen haben, dass die Hunde so wie die Menschen sich in das kühle Innere hinter den dicken Mauern der Stadt zurückgezogen hätten, denn die Junitage waren in diesem Jahr ungewöhnlich schwül und drückend, sogar auf einer Höhe von 2100 Metern. Weil das Wetter war tatsächlich ein Faktor in den bizarren Geschehnissen dieses Sommers. In den Luxusvillen auf den Hügeln wie auch in den wie zufällig wuchernden Steinhäusern in der Unterstadt blieben die Deckenventilatoren die ganze Nacht angedreht. Es wimmelte von Stechmücken. Die Kakteen in den Parks und auf den Hügeln der Umgebung standen still da. Die Mesquite-Bäume schimmerten tagsüber braun und sonnenverbrannt. Die Berge schwiegen unter dem immer gleich bleibenden Himmel. Irgendetwas Undefinierbares hatte sich verändert.

     Jeder wusste, dass etwas anders war, und manche Leute versammelten sich rund um den Kiosk der Blaskapelle im Zentrum von el Jardín, um über die seltsame Atmosphäre in der Stadt zu reden. Die elektrischen Glühlampen schienen schwächer zu brennen. Die Straßenbeleuchtung flackerte und fiel aus. Das Restaurant Le Fumoir schloss unerklärlicher Weise für diese Saison. Die Leitung der populärsten Diskothek entließ ihre Rockband aus Mexico City.  Es kamen weniger Touristen. Zum ersten Mal in seiner Geschichte registrierte das Allende Art Institute einen dramatischen Rückgang bei den Einschreibungen. Die Einwohner begannen, seltsame Sachen zu machen: sogar am Zahltag blieben die Mexikaner von der Arbeit zu Hause und die Gringos reisten plötzlich in die Vereinigten Staaten oder entschieden sich für einen außertourlichen Urlaub in Acapulco.

     Es schien, als würde San Miguel gerade auf dem Höhepunkt seiner Popularität verlassen werden. Manche Leute glaubten, dafür sei El Niño verantwortlich. Und doch, es war mehr als nur das Wetter. Der örtliche Schamane, ein alter Otomí, ließ von seiner Hütte auf einem niedrigen braunen Hügel, den man "Paradies" nannte, einen verspätete Warnung los, dass der wankelmütige Gott von Mittelamerika, Tezcatlipoca, in seinen rauchigen Spiegel geblickt und entschieden habe, die Region durcheinander zu würfeln;Opfer, so schlug der heilige Mann vor, wären die einzige Rettung.

     Etwas Ungewöhnliches war sicher passiert, - oder passierte gerade -, etwas, das die sensitiveren Seelen besorgt machte, als ob etwas Wesentliches aus ihrem Leben fortgenommen wäre; Sie fühlten die Leere, die man spürt, wenn der Schmerz über den Tod einer geliebten Mutter oder eines verehrten Vaters nachlässt.

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     Die einzige Person, welche den tieferen Sinn der Umweltveränderung in San Miguel entdecken sollte, war wohl der Maler und langjährige Einwohner Allan Crillon. Und selbst seine sehr besondere Empfänglichkeit war erst erwacht nach dem plötzlichen Verschwinden von zweien seiner fünf Hunde, die er persönlich aus den Wüsteneien der Straßen gerettet und in den sicheren Hafen seines Hofes, seines Ateliers und Heims gebracht hatte.

     Allan Crillon war ein opferbereiter und hingebungsvoller Mann - hingebungsvoll für seine Frau, seine vielen Freunde, für streunende Hunde und Katzen und für seine Kunst. Dennoch fühlte sich der Künstler schuldbewußt, dass es nicht genug sei, was er tue. Er tat zu wenig für seine Mitmenschen. Zu wenig für die Umwelt. Eben zu wenig für das Leben. Wenn man ihm so zuhörte, dann fühlte er sich manchmal schuldig, weil seine Hingebung für Pflanzen hinter seinen Gefühlen für Tiere hinterher hinkte.

     Er stand einmal im vorigen Winter nach einem besonders harten Kälteeinbruch mit mir mitten in seinem Patio, umgeben von seinen fünf Hunden, strich sich mit seiner einfühlsamen, langen Hand durch sein dünner werdendes, blondes Haar und schaute traurig auf die verwelkten Topfpflanzen entlang der Hofwände: "Ich habe vergessen, Sie abzudecken und der Frost hat sie alle umgebracht. Was habe ich nur getan?"

     Die meisten Ausländer in San Miguel Allende, -- sie nennen sich selbst Gringos -, widmen der Flora und der Fauna hier mehr Zeit, als sie das in den Vereinigten Staaten, Kanada oder Europa getan hatten. Sie haben einfach mehr Zeit dazu in dieser Kurstadt hoch oben auf dem Plateau. Aber das ist bei Allan Crillon nicht der Fall. Er hatte noch weniger Zeit, als er je gehabt hatte, als er noch Redakteur eines Kunstmagazins in   North Carolina gewesen war. Seine Frau beklagte sich darüber, dass sie heutzutage nach Mexico City oder Laredo gehen müssen, nur um Zeit zum Liebe machen zu finden. Allan war so beschäftigt, dass er im vorhinein Verabredungen für seine beiden Lieblingsablenkungen treffen musste: Liebe machen mit seiner Künstlerfrau und Sauftouren mit mir. "An welchem Tag wollen wir uns besaufen?" pflegte ich zu fragen. Und er pflegte dann seinen geheimen Terminkalender in seinem Kopf zu Rate zu ziehen in etwas in der Art zu antworten: "Wie wäre es mit nächstem Donnerstag Nachmittag?"  Und er pflegte dann da zu sein, bereit, hingegeben, verantwortungsvoll. Allan ging an die Saufgelage wie an alles andere heran: energisch. Seine einzige Regel war: "Du kannst die ganze Nacht saufen, so viel und so lange du willst, aber es darf dich nie bei deinen Verpflichtungen am nächsten Tag stören." Und sicher genug war er am Morgen nach solchen Eskapaden auf den Beinen und hingebungsvoll beschäftigt, sogar früher als gewöhnlich, sein jungenhaftes Gesicht etwas grauer, mit schweren Lider über seinen blauen Augen, vielleicht hier und dort eine Beule oder Schmarre von geheimnisvollen Schlägen, Stürzen und Unfällen, und vielleicht zeigten sich dann seine 55 Jahre mehr als sie es sonst normal taten.

     Als Partner in einer von den größeren Kunstgalerien der Stadt war er jede Woche einen ganzen Tag beschäftigt. Zwei Nachmittage und zwei Abende lehrte er in Zeichenkursen, er war Schauspieler im Stadttheater und malte die Bühnenbilder für alle Produktionen im Angela Peralta Theater. Er arbeitete auch 30 Stunden wöchentlich im Hundeasyl, dessen Mitbegründer und hauptsächlicher Spendeneintreiber er war. Als Taufpate eines mexikanischen Kindes aus Veracruz war er in die vielfältigen Festaktivitäten jener Familie, die acht Kinder hatte, eingebunden. Es war bei ihm Tradition, bei Parties zu Weihnachten, Erntedank, Halloween und zu seinem Geburtstag und dem seiner Frau enorme Gruppen von Gringos und auch Mexikanern zu bewirten. Im Winter führte er Wanderer auf seinen Lieblingssteigen in den umgebenden Bergen. Als glühender Fan von Stierkämpfen reiste er weit herum, - einschließlich seiner alljährlichen Pilgerfahrt nach Spanien -, um den Stierkämpfern und ihren Schlachten zu folgen. Deshalb war es ungewöhnlich, obwohl er ein Künstler war, ihn einmal ruhig in seinem Atelier vor einer Leinwand stehen zu sehen, wenn er eine seiner mexikanischen Kneipenszenen malte, als ob er die ganze Zeit der Welt dafür hätte. Und doch konnte man ihn jeden Tag, gewöhnlich am späten Nachmittag, wenn die Dunkelheit über die Höhen hereinfiel und die magischen Winde bliesen, mit seinen fünf Hunden spazieren sehen, über die Felder, oder die Hohlwege hinauf, oder am Ufer des künstlichen Sees entlang unterhalb von Los Balcones und den botanischen Gärten.

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     In einer warmen Nacht bei Wodka und Tonic in Tio Roberto’s Bar, -- es war einige Tage bevor er entdeckte, dass die Hunde verschwanden, und Allan hatte eben gerade die Galerie abgeschlossen und war schon zu spät dran für den Spaziergang in den Hügeln mit den Hunden --, da fragte ich ihn nach seiner Kandidatur für die Präsidentschaft beim Hundeasyl. Eben, wieviel musste er denn noch im Leben tun? Seine Überaktivität war immer noch ein Rätsel. Weil Allan weder ein Romantiker, noch ein religiöser Mensch war, war ich von seiner Antwort überrascht und fragte mich, von wo sie in seiner Erfahrung herkommen mochte.

     "Wie Kierkegaard sagt, blicken wir manchmal in unsere Herzen und werden uns bewusst, dass Gott weiß, wie unvollkommen wir sind. Wir sind alle, unser ganzes Leben lang, mit der Frage konfrontiert: Wie viel können wir tun? Ich möchte natürlich nicht zu weit auf diesem Ast hinausklettern und Beute von all dieser Sorge werden und ich frage mich immer, ob ich das wieder riskieren soll oder nicht. Aber ich glaube, wenn man es nicht riskiert, dann verbringt man sein Leben damit, sich zu fragen, ob man alles getan hat, was man tun konnte."

      Ich fragte: "Aber was ist, wenn du es riskierst ... und dann das Falsche tust?"

     "Das ist das Risiko,” sagte er kalt, trommelte mit einem Löffel auf den Marmortisch und bestellte noch zwei Wodka. "Und die Angst! Die Angst, falsch zu liegen. Oder zumindest nicht recht zu haben. Wenn du es nicht tust, machst du einen Fehler. Aber manchmal habe ich das Gefühl, wenn ich es tue, mache ich immer noch einen Fehler. Also was erwartet man dann von einem Mann, dass er tut? Nichts? Bloß warten? Nein, ich glaube, dass man eine Wahl treffen muss. Und wenn es nur wäre, das Leben zu genießen. Schau dir doch alle diese Gringos rundum hier in San Miguel an, die lieber hier leiden, als zugeben, dass sie einen Fehler machen. Sonst würden sie ihre Siebensachen packen und dorthin zurück gehen, wo sie her gekommen sind."

     Seine Augen waren so rauchig geworden, so undurchsichtig, dass sie beinahe in einem See von Düsternis verschwanden. Als ob er auf irgendwelchen gottverlassenen Steigen auf der Sierra Madre außerhalb von Zeit und Raum wandern würde.

     "Alles in allem," setzte er rätselhaft hinzu, "was gibt es sonst noch, als das Leben zu genießen?"

     "Na, wenn du das den ewigen Ruf zur Pflicht nennst, das Leben genießen!" neckte ich ihn.

     “Es dreht sich jedenfalls alles um Liebe.”

     “Ja, aber wie ist es doch aufbauend, wenn man weiß, dass man recht hat.” Ich hatte immer noch Schwierigkeiten, zu glauben, dass irgendwer so vollkommen sei, wie er es zu sein schien, -als ein hingebungsvoller und großherziger Arbeiter, ein engagierter Gatte, tierliebend, ein Kurator der Künste. Irrte er sich niemals? Hatte er nie einen Ausrutscher?

     Er lachte zynisch, seine blauen Augen jetzt belustigt hinter seinen dicken Gläsern, und vervollständigte meinen Gedankengang: “Auch wenn du an so einem Standpunkt leidest. Und jedenfalls glaube ich, dass Gott auch nicht immer recht hat.”

     Er lud mich freundlich ein, bei der Versammlung der Sponsoren des Hundeasyls dabei zu sein, wo er zur Gründung eines eigenen Untersuchungsausschusses aufrufen wollte, um sich mit dem Rätsel der fehlenden Hunde zu befassen. Es war klar, dass er die einzige Person war, die sich der Tragödie bewusst war. Niemand verstand etwas. Die Präsidentin des Hundeasyl-Vereines wies selbst darauf hin, dass ihre Hürden von Streunern übergingen. Auch hatte niemand von der Hundeasyl-Gruppe irgendeine Veränderung in der Hundepopulation der Stadt, - für die sie alle einigermaßen sensitiv waren, bemerkt.

     “Nun,” sagte ein trauriger Allan, wobei ihm Tränen in den verschwimmenden Augen aufstiegen, “zwei von meinen gehen ab. Gestern Abend habe ich sie zur Tür hinaus gelassen, damit sie auf der Straße ihr Geschäft verrichten, und sie sind nicht mehr zurückgekommen. Die Kinder draußen sagten, dass sie einem seltsamen Mann anscheinend den Hügel hinauf in Richtung Los Balcones nachgelaufen seien. Jetzt bin ich gerade vom Jardín gekommen, - ich gehe da jeden Tag hin, nur um mich zu vergewissern. Da sind überhaupt keine Hunde. Keine! Irgendwer von euch, wenn ihr heute Abend zum Jardín geht, werdet ihr überrascht sein, wie wenig Hunde dort sind. Ich weiß, es gibt in den Nebengässchen keine Hunde. Das geht schon eine ganze Zeit so, aber niemand hat es bemerkt. Ich stelle euch allen die Frage: wo kommen die Hunde hin?”

     Da eben hob ein extrem dünner Mann, der ein blau und gelbes Seidentuch trug, mit der lässigen und gefälligen Art des Bonvivants seine Hand um Aufmerksamkeit, stand auf und sagte in einem leichten, eher neckischen Ton: “Allan, Sie kennen alle die Bars und Restaurants in der Stadt besser als alle übrigen von uns! Wussten Sie, dass gleich gegenüber vom Allende Institut ein koreanisches Restaurant eben gerade aufgemacht hat und dass ein weiteres dabei ist, oben auf der Calle Jesús aufzumachen ... und Sie wissen, was ihre Spezialität ist.”

     Allan stand stocksteif da, während diese leicht dahin geredeten Worte in ihn eindrangen. Er konnte seinen Ohren nicht trauen. Dann sah er aus, als wollte er den Eindringling niederschlagen. Im Schock sah er sich im Raum um. “Das, Bill, ist die ekelhafteste Sache, die ich je gehört habe! Wenn das die Art ist, wie Sie fühlen, dann verstehe ich nicht, warum Sie noch in dieser Versammlung sitzen.”

     “Nun, während des Krieges hat man in meinem Land Katzen als Hasen verkauft und mit Genuss gegessen,” sagte sanft eine Frau in mittleren Jahren aus Florenz. “Und man konnte im ganzen Kolosseum in Rom nicht eine einzige Katze finden. Natürlich waren das nur Katzen, aber jedenfalls ....”

     “Es ist wohl bekannt, dass die Koreaner einen Haufen Hunde in einen großen Sack stecken und sie dann mit schweren Stöcken zu Brei schlagen,” sagte ein russischer Maler im Exil, einer von den engagiertesten Hundeliebhabern von San Miguel. “Davon kommt es, dass ihr Fleisch so zart ist.”

     “Was für eine Kanaille,” witzelte eine pensionierte belgische Lehrerin aus Mons.

     Allan, der ewige Realist, immer ausgeglichen und unter völliger Kontrolle seiner selbst und seiner Emotionen, blickte hilflos von dem boshaft feixenden Bill zu der unschuldigen italienischen Dame und zur förmlichen Präsidentin des Hundeasyls; er sah aus, als wollte er jeden Augenblick ohnmächtig werden. Der Gedanke, dass sein Randy und Red in einem Sack zusammengeschlagen und im Kochtopf eines koreanischen Restaurants gelandet wären, war mehr, als er ertragen konnte. Indem ich mit ihm in den Kneipen von San Miguel zusammen saß, war ich dazu gekommen, die Dichotomie seiner Natur zu begreifen: Sein Fanatismus für den Stierkampf und für das Töten von Stieren auf der einen Seite, und auf der anderen Seite seine kindliche Liebe zu Hunden und Haustieren. Stierkampf war die totale Kunst, nach der er in seiner Malerei strebte. Das war die Lebensgefahr, das Sinnbild seiner seltenen Abweichungen von der Wirklichkeit; Hunde dagegen waren der Ausdruck seines kindlichen Gemütes, dem er erlaubte, rund um ihn zu schweben, zu gleiten, sich zu senken und einzutauchen wie die Schneeflocken des ersten Schnees im Dezember. In diesem Augenblick las ich einen SOS-Ruf in seinen Augen.

     “Die Versammlung ist geschlossen,” murmelte er und ging zur Tür hinaus auf die untere Calle Canal, wo wir ein fahrendes Taxi heranwinkten.

     “Tio Roberto’s,” sagte er.

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     Von diesem Tag an wurde Allan zu einem Gespenst. Er war allein. Man konnte ihn gelegentlich die Calle Recreo hinunter schleichen sehen, an der Plaza de Toros vorbei zum Parque Juárez und zurück den Chorro hinauf, hügelauf entlang von Santo Domingo, und auf den Wegen und Pfaden zu den botanischen Gärten hin, entweder alleine oder mit seinen übrigen Hunden, die er an der Leine hielt. Seine Augen blitzten beständig in alle Richtungen. Er pflegte durch die Küchenfenster des koreanischen Restaurants zu lugen und er befragte auch immer die Gäste über die Kost dort. Er zuckte zusammen, wenn die Leute in der Stadt das neue Restaurant lobten und die Zartheit und den Geschmack seiner Fleischgerichte; er glaubte, sie würden das vorsätzlich tun. Es schien Allan immer noch, dass sich keiner darum kümmerte oder auch nur bemerkte, dass es beim Jardín keinen einzigen streunenden Hund mehr gab. Lustlos saß er seinen Tag in der Galerie ab. Er ging ohne Begeisterung zum Hundeasyl. Seine Zeichenkurse sagte er ab. Seine Frau sagte, er würde nie seinen Pinsel aufheben oder ihr irgendwelche Avancen machen. Er war ruhelos, unzufrieden, nicht überzeugt.

     Ich hatte ihn nie zuvor traurig oder melancholisch erlebt. Doch als ich ihn in der abgedunkelten Bar von Tio Roberto bei Wodka und Tonic darum fragte, zuckte er die Achseln und sagte, er hätte nie Zeit dazu gehabt. Traurigkeit, so hatte er immer gesagt, sei ein Luxus. Nun hatte sie ihn übermannt. Aber während sich Allans Suche nach einem Hundedieb fortsetzte, der ihm höchst unbekannt war, wurden sich immer mehr Leute der Abwesenheit von Hunden bewusst und dass die Atmosphäre von San Miguel gewandelt hatte. Es war, also ob irgendein großer Gott die Stadt steril gemacht hätte, sie entmannt und ihres Elan vital beraubt hätte, der sie zum mexikanischen Santa Fe gemacht hatte. 'Wo sind sie denn?' fragten die, welche regelmäßig im Jardín saßen, Gringos und Mexikaner gleichermaßen. Ab und zu wagte sich sogar eine Katze in den Jardín, wo seit Jahrzehnten keine Katzen mehr gesehen worden waren. Tauben stolzierten überall herum, lässig und unbelastet von ihrer atavistischen Angst vor den streunenden Hunden, die in Wahrheit in normalen Zeiten schon einmal gelegentlich einen ihrer geflügelten Mitbewohner auf dem Platz auf fraßen.

     In seinem immer wiederkehrenden Hundetraum war Allan immer durch Hunde in Schrecken versetzt, voll Furcht vor ihrer Kraft und ihrer Anzahl. “Eine Besetzung des Landes durch Hunde,” nannte er es eines Nachts in der Bar. Er hasste diesen Traum. Er wusste, dass seine periodische Wiederkehr von einer dummen Furcht aus seiner Knabenzeit herrührte. Um ihn heute heimzusuchen. Ihn, den Schöpfer des Hundeasyls! Und doch hatte er sie an das Ufer schwimmen gesehen, zahllos, ewig, riesig, wild, hierarchisch, nicht aufzuhalten. Hunderte, Tausende, Millionen von riesigen, fast nicht wieder zu erkennenden Hunden, ihre geordneten Formationen “schwellend und pulsierend,” sagte er. Bereiteten sie sich heute irgendwo darauf vor, die Stadt zu überfallen, fragte er sich, wie die Horden von Attila dem Hunnenkönig? Lauerten sie etwas an einem geheimen Ort in der Sierra Madre, sich rasend vermehrend in einem von einem Gott inspirierten Zeugungsprozess?

     Er taumelte zwischen Traum und Wirklichkeit, angsterfüllt und wachsam, von Furcht befallen, aber dennoch bereit, in die Schlacht mit den geheimen Kräften zu gehen, um die Hunde von San Miguel von ihren Fängern zu befreien, wenn nötig sie von ihnen selbst frei zu machen, weit auf den Ast hinaus zu klettern und seine volle Pflicht zu erfüllen.

****

     Es war später Nachmittag. Die Sonne stand riesenhaft am westlichen Horizont. Der Wind wehte von Norden her. Er peitschte nieder durch die Hohlwege, den Hügel zu den botanischen Gärten hinauf und wieder hinunter in den Riss zwischen den zerklüfteten Bergketten rund um den See. Allan folgte einem hochgewachsenen, dünnen Mexikaner, der vier Hunde an Leinen hielt, Hunde, die zu sauber und gepflegt waren, um Streuner zu sein. Allans Hunde, Ralph, Charles und Laura, bellten und zogen an ihren Leinen, sie zerrten ihn vorwärts bei ihrer Verfolgung. Aber Allan hielt sie zurück, während ihn der Mexikaner etwa hundert Meter vor ihm zu ignorieren schien. Die beiden Hundeteams umrundeten das Nordufer des Sees und rannten einen Hügel hinauf durch zwischen nun stillen Kakteen und Mesquito-Bäumen. Seltsamer Weise, wie Allan fand, war die Flora hier größer und dicker als normal. Als der Mexikaner mit seinem Hundequartett in einem Dickicht von Bäumen, Sträuchern und zerklüfteten Felsen verschwand, stieg von dem Pfad, der sich bald eng, bald weit, einladend hinwand, grauer Staub wie eine Wolke auf.

     Allan stürmte, da er befürchtete, ihn zu verlieren, vorwärts. Er wusste es, das war der Hundedieb. Der verabscheuungswürdige Hundefleischhändler. Der Metzger. Dennoch war er besorgt. Was würde er dort in dem Dickicht vorfinden? Eine knospende Hundewelt? Das Heer von wilden Hunden seiner Alpträume? Er verlangsamte seinen Schritt. Ralph, Charles und Laura rissen ihn vorwärts, indem sie mit all ihrer Kraft zogen, ihre Pfoten gruben sich in den weißen Sand ein, so als ob ihr einziger Wunsch wäre, sich mit ihren Brüdern zu vereinen.

     Dann öffnete sich plötzlich das Dickicht, und da war er, der große Pferch. Der Hundepferch. Eine ausgedehnte, zusammengezimmerte Struktur, als ob sie über Nacht errichtet worden wäre. Gelbe Augen in unbeweglichen Hundegesichtern lugten hinter dem Stacheldrahtzaun hervor. Auf dem Abhang herrschte Schweigen. Wie Kampfstiere, wenn in dem ersten Augenblick, wo sie in die Mitte der Arena kommen, nach etwas Ausschau halten, das sie töten könnten, plötzlich verwirrt, betäubt, vielleicht verlegen, mit den Hufen in Erwartung im Sand scharren, beäugten die Hunde die Ankunft des mexikanischen Metzgers mit ihren vier gezähmten Brüdern und auch Allan dort am Rande des Dickichts und seineTroika. Sie schienen zu denken: 'Was ist das? Krieg zwischen den Menschen? Aber, aber ist das nicht der Hundemann? Der Mann auf der Parkbank, der uns immer streichelt? Der Mann vom Asyl, der unsere Wunden heilt? Ist das nicht der Mensch mit dem Hundeherzen? Was könnte das bedeuten?'

     Allan zögerte. Der Mexikaner öffnete das Gatter und schubste die vier Neuankömmlinge sanft hinein. Sie standen nahe am Gatter bei einander, verlegen durch ihre Furcht vor den streunenden Hunden. Ihre Brüder. 'Was würde passieren,' dachte Allan am Rand des Dickichts, 'wenn er das Gatter des Pferchs öffnen würde wie das Stiertor in der Arena nach der Parade der Matadore, Banderilleros und der berittenen Picadores und der Zugpferde? Würden sie ihn überrennen und Ralph, Charles und Laura und alles, was ihnen in den Weg kam mitreissen? Eine Hundestampede?'

     Gott sei Dank, der Mexikaner stand mit dem Rücken zu ihm und ignorierte ihn immer noch. Allan zögerte nicht mehr länger. Er musste handeln. Es war eine Kleinigkeit, den Mexikaner zu überwältigen und ihn mit der Hundeleine an den Pferch zu fesseln.. Wie in einem Traum befangen öffnete er die Schleusentore.

     Den Rest der Geschichte erzählte Allan in seinem neuesten Gemälde, das für die örtliche Folklore das außergewöhnliche Ereignis der Rückkehr der Hunde festhielt: In der Mitte der ausgebreiteten Leinwand rannten hunderte von Hunden den Hügel hinab zum Heiligtum des Jardín und zu den Hintergässchen der Stadt. Auf der linken Seite war ein ruhiger Nachmittag dargestellt, der ewige Himmel und ein halbes Dutzend Hunde, die zu Füßen von Leuten, die auf den Bänken saßen, lagen. Und auf der rechten Seite war da eine gemischte Gruppe von barhäuptigen Matadores, in goldbestickten Kostümen, flankiert von lächelnden Mariachis mit Tüchern über ihren Schultern, redend und rauchend unter den Arkaden.

     Vom Hundemann war nur eine Hand sichtbar, eine Hand mit langen Fingern, die von einer grünen Eisenbank herablangte und den Kopf eines braunen, streundenden Hundes liebkoste, dessen Augen fest geschlossen waren.

Gaither Stewart kann erreicht werden unter GaitherStewart@libero.it

[Übersetzer: Dr. Adalbert Kowal, Traunstein, Deutschland, Email: adalbert_kowal@web.de , CV und Portfolio einsehbar unter: freeagent.com/adalbert , foreignword.com/cv/document_3145.htm , elance.com/c/fp/main/viewprofile.pl?ID=333274&type=seller&catid=akowal ]