Das Licht am Ende des Korridors

 

von Gaither Stewart

 

November 2001

 

Graf Ronald de Ronaldo Bonnefont riss sich von seinem beruhigenden Tagtraum über seinen vergangenen Ruhm los und wurde sich nach und nach wieder seines Körpers und seiner Umgebung gewahr. Reglos lag er auf der rechten Seite, die Augen geschlossen, die Knie abgewinkelt und sein linkes Bein über das rechte gelegt, und verkündete laut seinen morgendlichen Vorsatz: “Heute werde ich nicht trinken.”

     Es war noch nicht später als gewöhnlich. Aber dennoch schien es ihm, er sei aus einer Art Tod aufgewacht. Jeder Morgen bedeutete seine ganz persönliche Auferstehung. Er erinnerte sich daran, dass er zur Trinkerstunde aufgewacht war, und seine Kehle war ausgedörrt gewesen. Er hatte lange gezaudert, aber dann war er aus dem Bett geglitten und auf allen Vieren im Dunkeln auf dem Dielenboden hingekrabbelt zu der Flasche mit Santa Maria Mineralwasser. Er hasste es, während der Nacht Wasser zu trinken, denn er musste dann unweigerlich ein Stunde später zur Toilette.

     Er hatte noch immer an den Ereignissen des gestrigen, trüben Tags gekaut, bevor er ins Nichts seiner Träume gesprungen war, hatte gebrütet und geschwitzt bei der Erinnerung an seine steigenden Haushaltsrechnungen, die er jedenfalls nicht bezahlen konnte, und dann hatte er sich abwechselnd in Tagträume gerettet und versucht, den gestrigen Tag zu rekonstruieren. Es schienen ihm mehrere Tage in einem gewesen zu sein, wie er so an der Grenze zwischen relativer Nüchternheit und undurchdringlicher Dunkelheit schwankte, zwischen der Erkenntnis, dass er betrunken sei, und der Schwärze seiner Unterwelt.

     Dass er sich selbst bewusst war, betrunken zu sein, erschien ihm als ein Fortschritt. Zumindest besser als ein Blackout! Er war in Versuchung, sich selbst zu gratulieren.

     Es musste wohl vier oder fünf Uhr morgens gewesen sein, als er seine Taktik änderte und sich eine seiner Lieblingsszenen aus der goldenen Jugend vorstellte, einen Empfang daheim im Stadthaus seiner Familie in Mexico City in Las Lomas. Der Enkel des obersten Wirtschaftsministers des Porfirio Diaz Regimes, eines der “Weisen”, und er trägt einen weißen Leinenanzug und ein einfaches Halstuch. Eine Zigarettenspitze aus Elfenbein in einer Hand und ein schlankes Sektglas in der anderen, das er lässig geneigt trägt, geht er den langen Korridor entlang, um die Ecke des großen Stiegenhauses, heh, Graf Ronald de Ronaldo Bonnefont ist viel größer als seine 1,73. Besonders liebte er, immer wieder die Szenen durchzuleben, in denen er, der Ästhet der Familie, zwischen den Gästen herumging, von allen beneidet, und sie lässig auf Englisch, Spanisch, Portugiesisch oder Französisch begrüßte. Er pflegte zu jedem ein persönliches Wort zu sagen, den Maler nach einer neuen Kunstausstellung zu fragen, dem Dichter seine Wertschätzung für die Neuausgabe seiner gesammelten Werke auszudrücken, den Architekten für sein brilliantes Wochenendhaus in der Nähe von Acapulco zu loben.                                           

                                                                        2.

     Ach, es war kein Wunder, war er doch einst der gesuchteste Salonlöwe in den eleganten Ateliers von Mexico City gewesen!

     Solche angenehme Bilder wiegten ihn schließlich wieder in Schlaf. Als dann der frühe Morgen weiter voranschritt und der kälteste Teil des Tages auf dem Plateau kam, erwachte er oft, und wenn er dann zu grübeln anfing, kam er ins Schwitzen und strampelte sich die Decken ab. Aber als es ihm gelang, die Erinnerung an die guten alten Zeiten zurück zu rufen, fühlte er die angenehme Morgenkühle und kuschelte sich wieder unter die weiche Wolle.

     Gott sei Dank, er musste wohl die letzte Stunde geschlafen haben. Er fühlte sich erfrischt. Er musste über sich selbst lächeln, als er das Ziehen einer bevorstehenden Erektion fühlte. Dann erinnerte er sich an seinen Traum, den er irgendwann in der Nacht gehabt hatte. Er war in einem kleinen Boot zu einer Insel gerudert, wie es schien, auf einem See. Auf der Insel stand eine Burg. Flaggen wehten auf ihren Basteien. Zuerst hatte er ganz gemütlich gerudert. Es war eine angenehme Szene, bis neben seinem andere Boote auftauchten, deren Ruderer und Insassen zu ihm hinübersahen und ihn antrieben. Rudere schneller! Rudere schneller! Es war ein Rennen hinüber zur Insel. Aber nein, er war auf offener See und die anderen Boote waren verschwunden. Enrique bei ihm im Boot. ‘Rudere schneller,’ schrie Enrique und trieb ihn provozierend an. ‘Rudere schneller!’ ‘Wohin denn, wohin?’ brüllte er. Am Horizont gab es nur den Horizont.

     Andale (los), Graf Ronald de Ronaldo Bonnefont,’ dachte er, ‘du wirst deine Augen aufmachen müssen.’ Wie er so da lag, die Augen geschlossen, in den Kokon seiner alten Realität gekuschelt, fühlte er sich sicher. Beinahe stark. Er hatte die Kontrolle. Und dann war da noch die Erektion. Verwirrung und Gefahr waren nur da draußen in der wirklichen Welt, wo er nichts mehr kontrollieren konnte. Und er fürchtete sich vor dem, was er sehen würde, wenn er die Augen aufmachte.

     Aber der Druck in seiner Blase löschte die Angst und auch die Vergessenheit aus. Er schwang seine Beine über die Bettkante und auf den Teppich, der neben dem Bett lag, setzte sich langsam auf, die Augen immer noch fest geschlossen. Er würde auch blind auf die Toilette finden. Versuchsweise setzte er seinen kleinen rechten Fuß auf den eiskalten Terrakottaboden und schnappte nach Luft vor dem Schock. Verzweifelt zwang er sich, unsicher gerade zu stehen. Als er den ersten Schritt machte, zitterten seine spindeldürren Beine und knickten fast ein. In seinem Kopf drehte sich alles. Da öffnete er die Augen.

     O Cristo,” stöhnte er, und besah sich das Durcheinander von Kleidern und Schuhen. “Nein! Nein! Heute wird überhaupt nichts getrunken. Das ist ein Gelübde!”

                                                                        3.

     Gegen das Waschbecken gelehnt entleerte Graf Ronald de Ronaldo Bonnefont seine Blase, während er die Augen von seinem prall gerundeten Bauch zu dem Strahl wandern ließ. Er schüttelte seinen jetzt geschrumpften Penis lange ab. Was für eine Erleichterung! Gracias a Dios, Gott sei Dank, er hatte keine Kopfschmerzen. Aber das hatte er ja nie. Er sollte jetzt eine Dusche nehmen. Wasser, das war verlockend. Aber die Mühe, nach Handtüchern und frischer Unterwäsche zu suchen, das war zu viel. Er hielt den Kopf unter den Hahn und enschied dann, dass er sich nur rasieren und viel Deodorant verwenden wollte. 

     Auf dünnen, käseweißen Beinen, die wie der Großteil seines Körpers unbehaart waren, wankte er zurück zu seinem Nachtkästchen, um seine Brillen zu holen, tastete sich zurück ins Badezimmer und begann in dem wandbreiten Spiegel sein Gesicht gründlich zu begutachten. Er kannte das Terrain auswendig. Sein Haaransatz ging beständig zurück, die blonde Tönung war am Verblassen und sein dünnes, etwas zu langes Haar zeigte das natürliche Schmutziggrau. Seine einst blauen Augen waren in den schmalen Schädel eingesunken, der farblos war, außer den seltsamen Linien der hervortretenden Venen. Sein Bart war so hell, dass er in Versuchung kam, auch das Rasieren auszulassen.

     Aber nein! Blitzartig erinnerte er sich, dass heute ja der große Tag war, der jährliche Empfang bei Zavala. Eine Benefizveranstaltung für Waisen, oder irgend so ein anderer edler Grund. Da durfte er nicht fehlen, er hoffte, er würde würdig auftreten, wie es seiner adeligen Herkunft geziemte. Das war doch heute? Jeder, der etwas darstellte, würde da sein. Also absolut kein Alkohol, bis er wieder sicher in seinem Ankleidezimmer war, und alle Honoratioren der Stadt nüchtern begrüßt hatte. Er würde alleine gehen. Ganz sicher nicht mit einer dieser billigen männlichen Huren seiner schäbigen Umgebung. Er würde im Taxi die gewundene Auffahrt zum Chorro hinauffahren und dann mit Würde aussteigen aus einem ... aus einem grün-weißen Taxi? 

     Mais non, c’est impossible, das ist unmöglich, er würde lieber eine schwarze Limousine nehmen. Nur weil ich, wie sie sagen, ein Säufer bin und schwul dazu, bin ich noch lange nicht weniger als diese pharisäischen Bürger. Was glauben sie eigentlich, wer sie sind? Eine Bande von unbedeutenden Niemanden, das sind sie. In Mexico City wäre keiner von ihnen, nicht einmal Maria Gracia Zavala selber, über unsere Schwelle gekommen.

     Mit seinen Daumen zog er die Haut über seinen Augen hoch und fragte sich, ob er seine abgesackten Augenwinkel nicht liften lassen sollte. Seine Augen waren zu bloßen Schlitzen in seinem verwüsteten Gesicht geworden, als ob sie von einem Karikaturisten hineingezeichnet worden wären.

                                                                        4.

     “Aber,” flüsterte er, “was macht das schon groß aus? Diese Person im Spiegel, das bin jedenfalls nicht ich. Gewiss nicht! Vielleicht habe ich vergessen, wer ich bin, oder sogar, wer ich war …, aber ich weiß, du bist nicht mein wirkliches Ich.”

     Er starrte sein Spiegelbild angestrengt an. Es schien ihm, als habe er immer nur ein Spiegelbild von sich gesehen, als ob er außerhalb seines eigenen Lebens wäre. Er grinste sein Spiegelbild an, da tauchte plötzlich kurz die Erinnerung an irgendetwas Unangenehmes aus seinem Unterbewussten auf. Was versuchte es ihm nur zu sagen? Sicher etwas, woran er sich erinnern hätte sollen. Was war heute überhaupt für ein Tag? Ist der Empfang wirklich heute? Lieber Gott, lass ihn doch morgen sein! Aber wenn der Empfang heute ist, dann war Samstag, dann war gestern ... dann war gestern, o Gott! Gestern war der Tag, wo er das Mittagessen für ein neues Paar in der Stadt hätte geben sollen. Er hatte zu dieser ersten comida seit vielen Monaten all seine Freunde eingeladen.

     Hat die dann eigentlich stattgefunden? fragte er sich.

     Während er neugierig durch seine Brillen in die tiefsten Tiefen dieser verengten Augen hinein lugte, schien es ihm, als sähe er am Ende eines nebligen Korridors ein schwaches Licht, wie eine Spur einer entfernten Erinnerung. Er blinzelte, um alles auszufiltern außer dem Ding, das dort in den Tiefen flackerte, wobei er jeden Moment erwartete, das vertraute Bild seines Vaters zu sehen.

     Aber nein, es war nicht sein strenger Vater, der ihn wegen des rechten Wegs, le droit chemin, tadelte. Erleichtert schmunzelte er. “Das ist das Flackern meiner Zukunft.”

     Dann zuckte er zusammen, als er sich statt dessen in seinem Empfangszimmer unten stehen sah. Er ist von seinen Gästen umgeben, seine Jungen scharwenzeln um ihn und bieten Getränke an, seine schattenhafte Figur lehnt sich vor, um seine Gäste zu betrachten, - wer sind sie überhaupt? Sie sitzen auf den mexikanischen Stühlen und auf der Velourcouch. Ein Gast, das muss doch ... das ist, ja, das ist doch dieser verdrehte Aaron. Aaron schreit “Johnny Walker, Johnny Walker.”

     Und er schaut zu, wie Graf Ronald de Ronaldo Bonnefont zu verblassen beginnt. Seine ausgefransten Konturen tanzen grotesk. Seine Kleidung wird farblos. Starke Arme schieben ihn zurück, hinunter, immer weiter den Korridor hinunter. Er streckt die Hände zum Salon hin aus und flüstert heiser, “Ich will bei meinen Gästen bleiben, ich muss bleiben, bitte lasst mich bleiben, es ist doch meine Party.”

     Er erinnerte sich. Das war knapp davor gewesen, als er das erste Mal aufgewacht war und gesehen hatte, dass es schon Tag war, wieder Tag, oder noch immer Tag, das wusste er nicht. Da war er noch sehr betrunken gewesen. 

    

5.

     Ronald hatte die Realität der Party nicht erfahren, aber er wusste, wie es da zugegangen war. Wie oft hatten ihm doch seine besten Freunde, oder seine Saufkumpane oder seine Liebhaber seine eigenen Eskapaden bis in die Einzelheiten erzählt. Es war schon ein Wunder, dass seine Leber nicht einfach den Dienst aufgegeben hatte. Seltsam, dass er nicht heute wieder in der Klinik war. Er blickte in seine Augen.

    “Ich bin am Sterben,” sprach er laut aus. “Ich kann den Tod riechen, wie er herankriecht.”

     Ich sollte hier weggehen. San Miguel ist an allem schuld. Es sind all diese Säufer. Die Jungen. Sie lassen mich voll laufen, damit sie mich bestehlen können. Fast alles von Wert ist schon aus meinem Haus verschwunden. Und sie stehlen mir das Geld aus den Taschen. Es ist dieser Enrique. Das ist der schlimmste davon. Bloß weil er so schön ist, glaubt er, mich zu besitzen.

    “Eines Tages,” sagte er zu seinem Spiegelbild, “eines Tages werde ich, bevor sie mir meinen ersten Drink geben und ich in Ihre Gewalt falle, Vaters Pistole finden und Enrique das Gehirn wegpusten.”

     Plötzlich hörte er im Erdgeschoss Geräusche. Er zog seinen roten Morgenrock an, der schon ziemlich dünn war, aber immer noch sein liebstes Stück, und stieg vorsichtig die enge Treppe hinunter. Als er dann wackelig unten im Gang stand, sah er die treue Margarita in der Küche, und rechts, im abgedunkelten Empfangszimmer, Enrique und irgendeinen Freund auf der Velourcouch liegen. Der andere sah bekannt aus, wohl einer von diesen Huren, die Enrique ihm in sein, Ronalds, Bett schubste, während ihm die anderen das Weiße aus den Augen stahlen. Wie er sie hasste.

     “Henry!” Er sprach seinen Namen englisch aus in einem vergeblichen Versuch, diesem ungehobelten Jungen etwas Stil zu verleihen und seine niedrige Natur etwas zu adeln. Er sprach ihn nur an, um seine Aufmerksamkeit zu wecken, denn er hatte ihm eigentlich nichts zu sagen.

     “Wie spät ist es?” fragte er auf Englisch.

     “Spät!” grunzte der andere.  Pero temprano para ti!”, "Aber früh für Dich!" setzte Enrique hämisch hinzu und grinste den jungen Mann zu, der dicht neben ihm saß.

     Er ist böse. Er ist der Teufel in Person. Sie glauben, ich wäre blind und blöd, dass ich nicht merke, wie sie mich systematisch bestehlen. Sie glauben, ich wäre bloß ein Säufer. Enrique und seine Bande sehen mich, wie die meisten in San Miguel, sogar meine besten Freunde, als Säufer, nicht als einen Alkoholiker. Ein Alkoholiker wird wenigstens als Kranker betrachtet, mit dem man Mitleid hat. Aber ein Säufer ist ein widerwärtiger, schändlicher Feigling.

     Oh, wenn ich all dem nur entkommen könnte! Manchmal beim Aufwachen, wenn er sich plötzlich bewusst war, dass er nahe am Ende des Korridors war, dachte er an eine dramatische Geste, um seine Umstände zu verändern. Er könnte nach Frankreich zurückkehren. Sein Großvater, der französischer Herkunft war, und seine eigene Mittelschul- und Universitätszeit in Paris machten ihn wenigstens zum Teil zu einem Franzosen, - manchmal betrachtete er sich mehr als Franzosen, denn als Mexikaner. Aber hier schienen seine frazösischen Ursprünge weniger wichtig zu sein, an diesem Urlaubsort mit all den Ausländern und den verrückten Mexikanern, die von Mexico City hierher kamen, um der Großstadt zu entkommen.  Wir sind alle schwarze Schafe, dachte er abwesend. Na, sie werden es sehen, wenn endlich meine Erbschaft durch gegangen ist.

    

6.

     Er nahm von Margarita seinen üblichen schwarzen Kaffee entgegen und ging in das hintere Wohnzimmer, schloss die Türe, steckte eine Zigarette in eine Elfenbeinspitze und setzte sich, um wegen dieser Party ein paar Freunde anzurufen. Er seufzte erleichtert, als ihm der alte Antonio, der selber schon ziemlich hinfällig war, für das wunderbare Mittagessen dankte. Wo es nun sicher war, dass die Party tatsächlich stattgefunden hatte, rief er Isabella, eine reiche, knausrige Witwe an, die seit Jahren zu jeder Party in seinem Haus kam. Er wollte die blutigen Details hören.

     “Also, zuerst haben sie dich ins Bett gebracht, bevor noch alle Gäste gekommen waren,” sagte sie, und lachte hysterisch.

     “Oh nein!” keuchte er. Was für eine Schande. Ein echter Jammer.

     “Die Hälfte davon hat dich nie gesehen, du böser, böser Bub. Aber weißt du, es war lustig, du hast ganz nüchtern ausgesehen, bis du plötzlich in deinem Sessel vornüber gefallen bist. Enrique hat dich aufgefangen und sie mussten dich diese winkeligen Stiegen hinauftragen. Es gibt nichts Schwereres als einen Betrunkenen! Das hat Enrique gesagt.”

     “Eines Tages bringe ich ihn um,” murmelte Graf Ronald de Ronaldo Bonnefont. “Er glaubt nur, dass er mich kennt, ... aber er kennt mich noch lange nicht.”

     “Wie bitte?”

     “Ich sagte, eines Tages lasse ich ihn dafür zahlen. Ce n’est point gratuit, ça. Das ist nicht alles gratis.”

     “Warum sagst du ihm nicht einfach, dass er gehen soll?”

     “Ich weiß nicht warum, ... vielleicht bin ich auch von ihm abhängig. Aber er und seine Freunde lachen mich aus und nennen mich ‘der Besoffene.’ Sie glauben, ich bin ein Trottel und merke all ihre Intrigen nicht.”

     “Oh, Ronnie, du bist doch ein ulkiger Vogel!… Äh, gibts schon etwas Neues von deinen Rechtsanwälten?” Ihrer beider Rechtsstreitigkeiten waren bei jedem Gespräch mit Isabella dabei, sein Verfahren wegen seines Anteils an dem beträchtlichen Immobilienbesitz, den sein Großvater hinterlassen hatte, und von dem das meiste in Frankreich war, wohin sich der Wirtschaftsexperte zur Zeit der Großen mexikanischen Revolution geflüchtet hatte, und ihr Rechtsstreit zwischen ihr und den Kindern ihres verstorbenen Gatten aus erster Ehe wegen großer Besitzungen in Mexico City.

     “Nichts Präzises. Aber ich versichere dir, an dem Tag, wo ich meinen Teil bekomme, heißt es Adieu San Miguel. Ich bin für dieses Leben nicht geschaffen.... Äh, meine Liebe, was ich noch fragen wollte, wie haben Professor Austin und seine Frau meine ... also, wie haben sie es aufgenommen, dass ich mich so früh zurückgezogen habe. Ich hätte so gern bei ihnen einen guten Eindruck machen wollen, er soll ja ein führender Architekt in den Vereinigten Staaten sein. Haben wir ein wenig miteinander geredet, ... einen Cocktail miteinander getrunken?”

    

7.

     “Also, du hast einen Eindruck gemacht! Und ja, ihr hattet miteinander getrunken, ... bevor sie dich weggetragen haben. Er sah recht überrascht aus, als du einfach vornüber gekippt bist.”

     “Daran hat nur Enrique Schuld! Du weißt das. Sie kennen meine Schwäche und drängen mir Getränke auf, sobald ich nur morgens aufstehe. Jetzt werden die Austins wohl nie wieder kommen!” Er wusste, dass sein soziales Leben auf den Klippen seiner Sauferei auf Grund gelaufen war. Sein Ruf als Saufbold, der 25 Jahre dauernde Rechtsstreit, und jetzt noch Enrique, das war einfach zu viel, um es ertragen zu können.

     “Na ja, Querida,” er seufzte, “Ich werde dich zum Empfang abholen. Ich nehme natürlich eine Limousine.”

     Nach einem weiteren Kaffee, diesmal mit einem Schuss Cognac, einem oder zwei Gläsern Sherry und einer halben Flasche chilenischen Weißwein zum Mittagessen, einem kleinen Calvados beim Rasieren und zwei Gin-Tonic in rascher Folge vor dem Hinausgehen, stieg er optimistisch, fröhlich und unerschrocken in die Limousine. Es war 5 Uhr, und er hatte sozusagen den Tag schon in der Tasche, zusammen mit einem Flachmann Remy Martin.

     Graf Ronald de Ronaldo Bonnefont handelte mit Alvaro, dem Fahrer, wie üblich den Stundenpreis aus, bat ihn, sich die Chauffeurkappe ordentlich aufzusetzen, gab ihm Isabellas Adresse an, wonach er den stummen Fahrer instruierte, dass sie zu mehreren Orten in der Stadt fahren würden, bevor sie zu dem Palais auf dem Hügel zurückkehren würden, das nicht mehr als drei Gehminuten von seinem Haus entfernt lag.

     Nachdem diese Einzelheiten geregelt waren, lehnte er sich auf dem Plüschsitz zurück und genehmigte sich einen langen Zug aus der Flasche. Dies war nun das Leben, das er gewohnt war, das Leben, das er wohl sicherlich verdiente. Wenn da nur nicht dieser nichtswürdige Enrique wäre! Aber da waren sie dann schon bei Isabella, wo sie auf Alvaros Läuten die obligatorischen vier Minuten warten mussten, ehe ihr Otomi Dienstbote das Portal zu ihrem Hof öffnete. Er stand an der Tür, als seine Herrin in die Limousine stieg, und wünschte ihr einen guten Abend.

     Draußen auf der Ancha de San Antonio ließ Ronald den Chauffeur direkt vor dem Eingang des Luxushotels Real de Minas halten und bat ihn und Isabella, dort unter dem Baldachin zu warten. Er ging an der offenen Bar in der Mitte der ausgedehnten Lobby vorbei, winkte ein paar Leuten zu, die er gar nicht kannte, blieb stehen, um ein Gemälde in der Nähe der Rezeption zu betrachten, hob eines der Hoteltelefone ab und tat so, als ob er eine Nummer wählte, dann legte er mit einem Grinsen auf seinem Gesicht wieder auf.

 

8.

     Als sie dann langsam auf der Hernandez Macias den Hügel hinauf zurückfuhren, bot er Isabella die Flasche an. In Umaran bogen sie rechts ab, fuhren um den Jardin herum, die Calle Reloj hinunter, und bogen dann links nach Mesones ab, um vor dem Peralta Theater zu halten. Ronald blickte auf die Menge, die sich für ein Kammermusikkonzert versammelt hatte. Er nahm wieder einen Schluck Cognac. Während die Limousine einparkte, betrat er die Lobby des Theaters, nickte nach links und rechts Fremden zu, stellte sich vor den Kartenschalter und zeigte sich recht enttäuscht, dass die besten Plätze bereits voll ausgebucht waren. Dann, während er die Idee, bei Tio Roberto noch etwas zu trinken, fallen ließ, ging er zur Limousine zurück, klopfte Alvaro auf die Schulter und sagte: “Zum Chorro Palace, mein Guter!”

     Weniger als zwei Stunden später schleppte ein hutloser Alvaro, die schwarze Krawatte über die Schulter gelegt, selbst schon etwas betrunken, weil ihm Ronald großzügig die Cognacflasche überlassen hatte, als er die Rezeption betrat, Comte Ronald de Ronaldo Bonnefont zu seiner Haustüre und ließ ihn in Enriques ausgebreitete Arme fallen.

                                                                  

     Es war bereits Morgen, als er zum zweiten Mal erwachte. Wie er so in der Dunkelheit des Zimmers da lag, sah er das flackernde Licht am Ende seines Korridors ganz klar. In seinem Traum war es ein stiller Korridor. Ein Korridor für verdammte Seelen. Er öffnete die Augen in der Dunkelheit. Die Lampe war immer noch da. Schwankend, flackernd, wie ein Leuchtfeuer. Der Bahnhofsvorsteher auf einem Gare in einer Provinzstadt in Nordfrankreich machte ihm ein Zeichen. Meint er etwa mich? fragte er sich.

     Er stellte seine Füße auf den Teppich und ... plötzlich stand er unten am Ende der Treppe. Und da waren sie wieder, Enrique und Konsorten, schliefen, und überall standen Flaschen auf den Tischen und am Boden. Enrique lag auf dem Bauch auf der Velourcouch. Zwei von den anderen lagen auf der Seite auf dem dicken Teppich. Und zwei weitere schliefen halbnackt auf dem Sofa im zweiten Wohnzimmer.

     “Sie saufen meinen Schnaps, stehlen mir das Silber und das Gold, und nennen mich einen Säufer,” flüsterte er bei sich selbst.

     Er war in der Küche. Durch die Fenster strömte Licht herein. Es war ein großer Tag in seinem Leben. Die Gedanken summten ihm wie ein Bienenschwarm durch den Kopf. Er schweifte durch die Weiten seiner Erinnerung in dem Versuch, einen Blick in die Tiefen seines Unterbewussten zu werfen, aber er hörte nur ein Echo klingen und fragte sich, ob das über ihn irgendeine bindende Macht habe. Ich bin in Dunkelheit geboren. Dann wurde ich gefüttert, gekleided und gehätschelt im Licht. Und jetzt muss ich in Dunkelheit enden. An die Dunkelheit meiner Geburt erinnere ich mich nicht, und den Tod verachte ich, immerhin bin ich also ein Mexikaner. Er lachte. Aber mein Tod wird im Licht sein. Er wird mich vollkommen machen. Die Dunkelheit meiner Geburt, das dunkle Geheimnis des nahenden Todes, das rettende Licht, all das ist hier, hier am Ende des Korridors. Aber was, was ist das dort? Ist das Frankreich da unten, dort am Ende des Korridors? Und wer ist das da? Aber ja, natürlich, es ist Enrique!

 

9.

     Ronald de Ronaldo schlich sich auf Zehenspitzen zum Arbeitstisch und schaute sich das Messerregal an. Er zog eines heraus und untersuchte es neugierig. “Nein!” sagte er, “Zu breit.”

     Dann war da ein Schälmesser mit kurzer Klinge. Das war nicht brauchbar.

     Das dritte war schwer und haltbar, mit einer lange Klinge, die sich nach und nach zu einer feinen, scharfen Spitze verjüngte. Er legte das Messer auf den Tisch und begann, seinen Kopf seitlich und hinten zu massieren, sein aufgedunsenes Gesicht zu einem befriedigten Grinsen verzogen.

     “Genau hier, hinter meinem Ohrläppchen. Das ist angenehm und weich.”

     Er spähte in den Salon und stellte Enriques Stellung fest. Der lag immer noch flach auf dem Bauch, den Kopf über den Rand der Couch hängend.

     “Perfekt, perfekt, perfekt. Also ein Säufer, bin ich das? Du kennst mich nicht, du kennst mich überhaupt nicht, junger Mann. Jetzt wirst du mein wirkliches Selbst kennen lernen.”

     Er griff sich hinten an den Kopf unten an der Schädelbasis und suchte den weichen, einladenden Mittelpunkt. “Das wird wunderbar klappen.”

     Comte Ronald de Ronaldo Bonnefont öffnete mehrere Schubladen, bevor er das geeignete Werkzeug fand, einen schweren Eisenhammer mit einer breiten Schlagfläche. “Das ist auch genau das Richtige.”

     Er verkniff es sich, zuerst eine Zigarette zu rauchen, schlich sich in den Salon, lehnte sich über den schönen Enrique, teilte das lockige Haar auf seinem Hinterkopf, setzte das Messer auf dem weichen Punkt an der Schädelbasis an, hob den Hammer, und – sah direkt in Enriques lächelnde Augen.

    Er schnappte nach Luft vor Schmerz, als eine kräftige Hand sein Handgelenk umfasste, und das Messer fiel scheppernd auf den Terrakottaboden. Die anderen setzten sich lachend und schreiend und applaudierend rasch auf. 

     Es war bloß wieder ein Traum. Der Raum füllte sich mit Menschen. Sie drangen auf ihn ein und drängten sich rund um ihn, unter ihm, über ihm. Sie rissen ihm den Morgenmantel hinunter. Lange Fingernägel kratzten ihn. Hände zogen an seinen Unterhosen. Sie zogen ihn an den Haaren und stellten ihm ein Bein, als er im Zimmer herumtorkelte. Lautes Gelächter. Schreie, ‘lass mich auch mal an ihn’ und ‘lass mich jetzt mal’ und dann ‘raus mit ihm’ und ‘weg mit ihm.’ ‘Nein, nein!’, glaubte er Enrique schreien zu hören. ‘Verletzt ihn nicht, er ist so zerbrechlich. Verletzt ihn nicht.’ Wieder Gelächter und Schläge auf seine Kehrseite, als sie ihn zur Haustüre hinausschoben.

    Comte Ronald de Ronaldo schaute sich in seinem kleinen Vorgarten um. Die Strauchrabatte war so dürr, vertrocknet, vernachlässigt. Staubwolken wirbelten die Straße herauf. Die Sonne war jetzt warm. Er zog sich die Unterhosen hoch und hämmerte wieder an die Eingangstüre. Er läutete. Aber es rührte sich nichts. Drinnen war es still. Er wusste, dass sie durch die Vorhänge nach ihm spähten. Er sprang zur Seite entlang der Sträucher und klopfte an die Fensterscheiben, “Lasst mich rein, bitte macht die Tür auf, ich habe nur einen Spaß gemacht. Hilf mir, Enrique!”

     Schweigen. Stille.

 

10.

    Die Wange gegen die kühle Fensterscheibe gepresst sah er ein Polizeiauto langsam seine Straße hinunter fahren. Still. Er hielt den Atem an. Er sollte sich verstecken. Sie würden ihn wieder mitnehmen. Die beiden Polizisten in Uniform betraten den Hof.

     Enrique erschien an der Tür, ein Messer in seinen Händen. “Er hat mich zu töten versucht,” schrie er und warf Ronalds Morgenmantel in den Vorhof. “Er wollte mir die Kehle durchschneiden.”

                                                          

    “Kann ich gleich den Hauptmann sprechen, wie gewöhnlich?” sagte Comte Ronald de Ronaldo Bonnefont von oben herab, während ihn die zwei Polizisten in das vertraute, einstöckige Gebäude in der Unterstadt führten. Unwillkürlich schrak er zurück vor den scharfen Gerüchen, die durch den langen Vorraum schwebten und seine Nasenflügel bissen. Er musste immer diesen Vorraum bis zum Büro des Hauptmanns durchqueren, wo er dann einen Kaffee serviert bekam. Wo er wieder mit zerknirschter Miene die übliche Strafpredigt durchstehen müssen würde, die damit einhergehende Erniedrigung, ehe der Hauptmann über ihn eine Geldstrafe von 1000 Pesos verhängen würde, die später eingehoben wurden. Oh verguenza! Was für eine Schande!  Und dann würde der gute Beamte, der geduldige Hauptmann, seine Leute rufen, um ihn nach Hause zu bringen.

    “Der Hauptmann ist heute nicht da,” sagte einer von den Polizisten, der ihn sanft den Vorraum entlang führte. “Sie werden warten müssen, bis Sie an die Reihe kommen.”

    “Wohin führt ihr mich dann, Männer?” fragte er. “Ich kann in seinem Büro warten, so wie immer.”

    “Diesmal nicht,” sagte der andere und grinste seinem Kameraden zu. Sie bogen nach links in ein Gewirr von Gängen. “Diesmal können Sie mit den anderen warten.”

    Er konnte schon den Lärm und das Schreien von Betrunkenen hören, ihr Singen, bevor sie um die Ecke bogen und er einen großen, käfigartigen Raum sah, der von Stahlgittern umschlossen war. Als sie eine winzige Türe aufschlossen, schwankte er, als ihm die Gerüche von Tamales, Tequila, Schweiß, Urin und offenen Abflussrinnen entgegenschlugen. Sie schoben ihn in die Ausnüchterungszelle.

     Der Lärm war jetzt ohrenbetäubend, geschrieene Konversationen und hysterisches Gelächter, Gesang von weiter drüben. Heißes Sonnenlicht stach durch schmutzige Fenster an den Seiten. Die Luft war zum Schneiden dick. Es war keine Grube oder ein Verlies, wie er es sich vorgestellt hatte, und doch schien es ihm, dass er von Dunkelheit umgeben war. Warum war er hier gelandet? Er sollte in einer Klinik sein. Oder zumindest im Büro des Hauptmanns. So war es abgemacht. So lautete die Vereinbarung. Die Polizisten standen draußen vor dem Käfig und sahen zu. Schweigen breitete sich, fast zu greifen, von den Gruppen von Männern, die ihm am nächsten standen, bis ganz nach hinten aus. 

    Er starrte die dunklen Gestalten angstvoll an, die den schmalen, engen Raum bevölkerten. Eine wachsende Masse Mensch drängte zu ihm hin. Er zog sich den dünnen Morgenmantel hinauf ans Kinn und suchte nach einem Licht. Um ihn drängten sich Körper, die nach Schweiß, Tequila und Knoblauch stanken. Hier gab es keinen Korridor. Keine beruhigenden Zeichen. Kein Licht. Er sah mit Entsetzen, wie eine dunkle Hand den Ärmel seines seidenen Morgenmantels berührte. Das schien wie ein Signal gewesen zu sein, diese Berührung. Die Stille explodierte in einen Tumult. Gelächter und Gesang und Gestank umgaben ihn, dröhnten über ihm und unter ihm. Comte Ronald de Ronaldo Bonnefont fühlte, wie er strauchelte, schwankte und kopfüber in einen schwarzen Abgrund fiel. Seinen eigenen Schrei “Capitan, oh Mi Capitan,” hörte er nur mehr wie aus weiter Ferne.

Gaither Stewart ist erreichbar aufGaitherStewart@libero.it